Der Wendekreis - Erste Folge | Page 6

Jakob Wasserman
ist vielleicht nicht zu tun; das Ganze ist
eine Erkrankung des Auges; freilich nicht des physischen Auges; was
darf nicht alles Auge heißen bei den Edleren: das Herz ist selber
Auge.«
Die häufig stockende, wie aus Bescheidenheit unsichere und zögernde
Rede des Fremden drang mit jeder Silbe unhemmbarer in Mörners
Inneres. Harte Schlacken schmolzen, der Krampf lockerte sich.
Was für ein Mensch ist dies? dachte er zwischen zwei Atemzügen, von
denen der eine noch Qual war, der nächste schon Hoffnung.
* * * * *
Sie saßen im Arbeitszimmer des Schriftstellers. Der Unbekannte
begann zu erzählen. Er hatte es gewiß noch nie getan, denn es hatte
unverkennbare Erstmaligkeit.

Es war viele Jahre her, daß er als Sohn eines reichen Hauses, verwöhnt,
umworben, wie ein Thronfolger umschmeichelt, eines plötzlichen
Tages alles von sich geworfen, alles Überflüssige, wie er sich
ausdrückte: Geld, äußere Würde, gesellschaftliche Stellung, die
Freunde, die Frauen, die Dinge, die Gewöhnungen, den Ehrgeiz, den
Namen; alles von sich abgestreift, bloß um zu leben, um wirklich zu
leben.
Mörner glaubte sich zu erinnern, davon gehört zu haben. Aber die Zeit
hatte den Eindruck des damals Vernommenen und wahrscheinlich
Entstellten verwischt.
Der Schritt des jungen Mannes hatte Verwunderung und
Kopfzerbrechen erregt. Er verursachte auch vielen Menschen Leiden,
die ihm bluts- und wesensnah waren, aber danach durfte er nicht fragen.
Er verzichtete auf alles, was ihm lieb und unentbehrlich gewesen war
und ging den Weg, den er sich selber bahnen mußte, und der umso
schwieriger und mühevoller war, als es ein bestimmtes Ziel auf ihm
nicht gab. Man mußte sehen, wohin man kam.
Was er unter »wirklich leben« verstand, das vermochte er weder
damals noch später befriedigend zu erklären. Man hielt ihn deshalb für
einen unklaren Kopf, und selbst diejenigen Leute, die seine
herausfordernde Luxusexistenz verurteilt hatten und seinen Bruch mit
der Vergangenheit im Prinzip billigten, zuckten über die Ausführung
die Achseln. Sie hatten etwas Besonderes, Niedagewesenes erwartet
und machten aus ihrer Enttäuschung keinen Hehl. Sich seinen
Verpflichtungen entziehen, die Schiffe hinter sich verbrennen, das kann
schließlich jeder, so sprachen sie ungefähr; Geld und Gut fortwerfen,
schön; in freiwilliger Armut leben, schön; aber angenommen sogar, daß
man nicht zu den ägyptischen Fleischtöpfen zurückkehrt, wenn einem
die Geschichte eines Tages zu bunt wird, wo ist die Idee? Was für ein
Dienst wird der Menschheit damit geleistet? Was wird bewiesen,
wodurch etwas geändert? Verkündet er eine neue Lehre? Lockt das
Beispiel zur Nachahmung? Ist es überhaupt nachahmenswert? Hat er
die Welt um einen fruchtbaren Gedanken bereichert? Nein, stellten sie
fest, es ist unreife Schwärmerei, bestenfalls eine moderne

Donquichoterie; Herrenlaune im Grund, nur verblüffender als die
früheren, und genau besehen ist er derselbe Snob geblieben, der er war,
wenn auch nicht geleugnet werden soll, daß ihm Übersättigung und
Verzweiflung den Antrieb gegeben haben.
So äußerten sich die meisten. Er aber kümmerte sich nicht darum. Ihre
Reden drangen bald nicht mehr zu ihm. Er schied aus ihrer Mitte. Er
schwand aus ihrem Gesichtskreis. Binnen kurzem war er verschollen.
Er ging in die Tiefen hinunter. Umkehr gab es für ihn keine.
* * * * *
Er erzählte, daß er ziemlich lange in der Borinage gelebt, bei den
Bergleuten; damals noch als Müßiggänger und neugieriger Gast. Der
Anblick des Elends hatte ihm diese Rolle unerträglich gemacht. Es
hatte sich eine Gelegenheit zur Überfahrt nach Amerika geboten.
Drüben war er gezwungen, sein Brot zu verdienen. Er griff zum
Schwersten, ging unter die Verlader am Hudson und war gegen
Tagelohn angestellt. Er wurde krank. Genesen, unterrichtete er die
Kinder eines polnischen Flüchtlings im Lesen und Schreiben.
Er hielt sich in seiner Erzählung bei den selbstverständlichen
Schwierigkeiten des alltäglichen Lebens nicht auf. Um seine Person
war es ihm ja nicht zu tun. Seine eigenen Leiden kamen nicht bloß
nicht in Frage dabei, sondern er nahm gar keine Notiz von ihnen, sie
waren kaum vorhanden für ihn.
Er erzählte, immer in dem nämlichen gleichmäßigen Tonfall und ohne
die geringste Eindringlichkeit, daß er sich bei einem großen
Grubenunglück in Pensylvanien an den Rettungsaktionen beteiligt habe
und wochenlang in den Schächten gewesen sei; wochenlang in der
Gesellschaft verwaister Kinder, verwitweter Frauen, dann daß es ihn
immer weiter getrieben wie einen, der unstillbaren Durst hat und bei
jedem Trunk nur noch durstiger wird. Daß er das Leben der
Metallarbeiter kennengelernt habe, berichtete er, und das der
Maschinenbauer, und das der Eisenbahnarbeiter, und das in den
Schlachthäusern, den Konservenfabriken, Spinnereien, Sägewerken
und Druckereien. Daß er mit Fischern gelebt, mit Holzfällern, mit

Kleinbürgern, mit Beamten, mit Kellnern, mit Defraudanten, mit
Bar-Tänzern, mit Negern, mit Farmern, mit Journalisten. Daß er Diener
eines Sekten-Oberhaupts gewesen, Schreiber bei einem Börsenmakler,
Agent für ein Annoncenbureau. Daß er in einer Besserungsanstalt und
in einem Zuchthaus war, nicht als unbeteiligter Besucher, sondern als
Sträfling, indem er sich mittels gefälschter Papiere für einen andern
ausgegeben. Daß er wochenlang in den unterirdischen Kanälen von
Neuyork genächtigt; in
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