Der Wendekreis - Erste Folge | Page 5

Jakob Wasserman
nicht, Aufenthalt zu
nehmen. Wenn man sich aufhält, entstehen Versäumnisse. Viele Jahre
bin ich schon unterwegs, und es ist manchmal schwer, der Müdigkeit
nicht nachzugeben. Aber wir wollen nicht von mir sprechen. An mir ist
nichts interessant. Sie werden es mir nicht verübeln, wenn ich offen
gestehe, daß ich Ihnen aus reiner Neugier nachgegangen bin. Wären Sie
mir entschlüpft, ich hätte wirklich nicht gewußt, was tun. Ich hätte Sie
bestimmt noch heute Nacht in Ihrer Wohnung aufgesucht, und diese
Zudringlichkeit wäre Ihnen wahrscheinlich sehr unangenehm
gewesen.«
»Sie waren also dort, dort oben bei meinen Freunden?« stammelte
Mörner; »ich habe mich also nicht geirrt ...?«
Der Unbekannte nickte. »Gewiß, ich war dort,« erwiderte er etwas
beschämt; »es hat mich unwiderstehlich hingezogen. Ich wußte von
Ihnen. Ich hatte irgendwelche Botschaft. Aus tausend Stimmen dringt
eine hervor, vernehmlicher als die andern. Ein Blatt Papier, ein
aufgefangenes Wort, was kann das nicht alles bedeuten. Und zufällig
saß ich Ihnen neulich im Eisenbahncoupé gegenüber, entsinnen Sie sich
nicht? Da erfaßte mich sofort die Neugier, trotzdem ich über das
Wichtigste gleich im Klaren war, und ich blieb unablässig auf Ihren
Spuren.«
In der Tat glaubte sich Mörner zu entsinnen, den Unbekannten während
einer vielstündigen Fahrt im halbdunkeln Abteil gesehen zu haben. Er
wunderte sich, daß ihm das erst jetzt einfiel, denn Gestalt und Gehaben

des Menschen waren ihm ungewöhnlich erschienen, das vollkommen
unbewegliche Sitzen, der intensive Blick, eine gewisse Naivität und
Bescheidenheit in den Mienen, verbunden mit einer schwer
definierbaren lächelnden Undurchdringlichkeit, alle diese Einzelheiten
sah er lebhaft vor sich. Seine Spannung und Unruhe wurde dadurch
nicht vermindert. »Wieso waren Sie sich über das Wichtigste im
Klaren?« fragte er und suchte seine Erregung hinter einem gereizten
und mürrischen Ton zu verbergen. »Bin ich denn so auf den ersten
Blick zu ergründen? Nichts für ungut, aber gegen das Hellsehn hab ich
meinen Argwohn; es ist durch einige Leute von meinem Metier
diskreditiert und läuft gewöhnlich auf Charlatanerie und Mystifikation
hinaus.«
»Ich habe ja auch Ihre Worte gehört,« antwortete der Fremde einfach.
»Daß Sie mißtrauisch sind, begreife ich. Sie kennen mich ja nicht. Ich
habe mir noch kein Recht auf Ihr Zutrauen erworben. Ich bin ein
Namenloser, wie gesagt, ein Niemand; es steht bei Ihnen, mich für
einen Charlatan zu halten. Nur bitte ich Sie, Ihr endgültiges Urteil noch
zu verschieben.«
Er wich einem Hund aus, der über die Straße lief und fuhr mit
derselben unerheblichen Stimme fort: »Nein, Hellseher bin ich nicht,
und daß ich Sie auf den ersten Blick ergründet habe, behaupte ich auch
nicht. Was mich zu Ihnen getrieben hat, ist neben der Neugier, die mir
angeboren ist, die sonderbare Leidenschaftlichkeit in Ihnen, die sich auf
alles in Ihrem Umkreis unmittelbar überträgt. Sie ist sehr selten, diese
Art von Leidenschaft, diese entselbstete; der Ausdruck stammt ja von
Ihnen. Es hat mich magnetisch angezogen; ich meine das nicht bildlich.
Ob ich wollte oder nicht, ich mußte dorthin, wo Sie waren. Auf dem
Meer, mitten in einer Windstille, bei blauem Himmel, hat man
manchmal die deutliche Empfindung, daß ein furchtbarer Sturm
irgendwo hinter dem Horizont wütet, der das Schiff förmlich in seinen
Trichter saugt. So war Ihre Wirkung auf mich. Die meisten Menschen
wissen nichts von ihrer eigenen Wirkung. Das Leben stumpft sie ab
dagegen. Viel notwendiger ist es, die eigene Kraft kennen zu lernen, als
die der andern. Mächtige Seelen liegen oft faul da und ahnen nichts von
dem Magnetismus, der in ihnen aufgesammelt ist. Ich unterscheide die

Menschen danach. Es ist eine Stufenleiter; von denen, die oben stehen,
strahlt die größte Kraft aus, die Schicksalskraft, die
Verantwortlichkeitskraft. Das ist der Kitt, der bindet. So war
wenigstens meine Erfahrung. Das ist auch der Grund, warum mich Ihre
Leidenschaftlichkeit so beschäftigt hat. Worauf sie eigentlich gerichtet
ist, kann ich nicht genau ermessen; ich habe nur zum Teil verstanden,
was Sie dort in dem Haus sagten; ich bin kein sehr gebildeter Mensch
und habe wenig gelesen. Ich hatte die Zeit nicht. Ich habe mir nur
einige Fähigkeiten angeeignet, durch die es mir möglich geworden ist, -
aber lassen wir das, davon erzähl ich Ihnen später, falls es sich ergibt.
Folgende Überlegung war es, die mich berührt hat wie seit langem
nichts. Ich sagte mir: wenn man mit einer solchen Flamme in der Brust
vor der Menschenwelt steht, wie kann es sein, was muß da geschehen
sein, daß die Flamme nicht leuchtet, daß nicht alles in blendender
Helligkeit vor ihr liegt, daß der, der sie besitzt, sich über Finsternis
beklagt und eben dadurch in Gefahr kommt, tatsächlich in Finsternis zu
versinken? Wie geht das zu? Ich sagte mir weiter: Vielleicht kannst du
da Nutzen stiften, es ist dir ja schon manchmal gelungen; da liegt so
eine Seele, sagte ich mir, eine mächtige Seele und windet sich in
Zuckungen; vielleicht kannst du das trübe Medium von der Netzhaut
dieses Menschen lösen, mehr
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