wahrer macht als die untere? Sie
selbst haben es uns so gelehrt. Nicht in Worten; im Beispiel. Und was
wir so oft mißverstanden und falsch verstanden haben, daß der Dichter
ein entselbsteter Mensch ist, so nannten Sie es ja, der Mensch ohne
Partei, ohne Meinung fast, dem alles Leben zur Speise wird, ist das
denn nicht mehr das Gesetz, dem Sie sich demütig beugen, wie Sie
immer getan haben?«
Mörner senkte den Kopf, und als er antwortete, war es ihm, als stehe er
nicht der sanften Fragerin Rede, sondern der verborgenen Person, die er
im Zimmer wußte. »Widerstände können wachsen,« sagte er; »es ist
jedesmal ein harter Weg dorthin, in die obere Welt; eines Tages sind
die Schranken unübersteiglich. Die Kraft reicht nicht mehr zu; der Mut
ist nicht mehr da. Werktätigkeit beruht auf Wechselwirkung. Das
Leben ist meine Speise, freilich; wenn aber die Speise faulig wird, wie
dann? Wenn die Augen nicht mehr sehen können, das innere Membran
nicht mehr erzittert, das Bild nicht mehr zu fassen ist, das Gefühl seine
Sicherheit einbüßt? Wie dann? Beide Welten, die obere und die untere
sind mir zu Schemen verblaßt. Ich kann nichts mehr greifen, es bleibt
mir nichts in der Hand, ich bin zur Ohnmacht verurteilt, ich bin ein
Selbst geworden.«
Er lächelte traurig, zuckte die Achseln und schwieg. Sein Ohr lauschte
in die Richtung, wo der Unsichtbare saß. Der aber verriet seine
Gegenwart durch keinen Laut und keine Bewegung. Als das junge
Mädchen sich zum Flügel setzte und ein Bachsches Präludium zu
spielen begann, schien er seinen Platz zu verändern.
Mörner wollte die Freunde durch seine Gegenwart nicht länger
bedrücken und entfernte sich still. Durch die mitternächtlich verödeten
Straßen trat er den Heimweg an, doch war ihm nicht wohl zumute bei
der Aussicht auf Alleinsein in seinem Hause.
* * * * *
Er hörte Schritte hinter sich, eine Weile schon. Es folgte ihm jemand.
Die Luft war mild, das Gewölbe bis in die Unendlichkeit umschleiert.
In der Dunkelheit wuchtete Ahnung, die die Seele zusammenpreßte und
sie aufsteigen machte gleich einer artesischen Säule. Er erinnerte sich
solcher Nächte aus seiner Jünglingszeit. Es waren dieselben
flaumsüchtigen Wolken gewesen, damals, in der Stadt seines Elends,
mitten im Herzen Deutschlands, dieselbe bittersüße Feuchtigkeit in der
Atmosphäre, dasselbe heimliche Säuseln und Brodeln in der Erde.
Warum war ihm das Längstvergangene heute nah? Kündigte sich
Prüfung an und neue quälende Überschau? Parade über die Truppen
vor der Abdankung? Ein Laut war wie Vogelruf, genau wie damals aus
dem Gebüsch am trüben Fluß, der die Fabrikwässer führte. Aber
damals war es Verheißung gewesen, heute war es Verzicht; damals
Ankunft, heute Abschied; damals hatte Romantik um die
verschlossenen Tore und schwarzen Fenster geschauert, heute das
frostige Wissen. Drei Jahrzehnte vergeblichen Wegs in eine Sackgasse!
Er ging langsamer; der ihm folgte, verzögerte ebenfalls den Schritt. Er
ist es, durchfuhr es Mörner, und seine erste Regung war, zu fliehen.
Doch trotzte er ihr; an einer Ecke unter einer Gaslaterne blieb er stehen.
Der andere kam heran, lüpfte den steifen niedern Hut und sagte leise:
»Guten Abend.«
Es war ein Mann von nicht genau bestimmbarem Alter; Mitte der
Dreißig ungefähr; jugendlich schlank, aber in der Haltung etwas schlaff
und im Gang schleppend. Soviel sich im ungewissen Licht ausnehmen
ließ, waren die Haare blond. Die Kleidung war adrett, obwohl ein
wenig abgetragen. Das bartlose Gesicht war auffallend hager, mit
tiefliegenden blauen Augen und erstaunlich scharfen Kerben um den
Mund. Alles in allem war es ein schönes, zumindest ein schön
gewesenes Gesicht, das nichts Vulgäres an sich hatte.
»Ich hoffe, Sie nicht zu stören,« sagte der Unbekannte mit
achtungsvoller Artigkeit, die den Mann von Erziehung verriet; »wir
haben den nämlichen Weg, scheint es; darf ich Sie begleiten?«
Mörner verbeugte sich kühl. Er zürnte sich wegen der Beklommenheit,
die er empfand. Seite an Seite setzten sie den Weg fort.
Der Unbekannte sagte: »Ich bitte um Verzeihung, wenn ich mich nicht
vorstelle; aber ich habe keinen Namen. Ich mache wenigstens schon
lange keinen Gebrauch mehr von ihm. Nur im Notfall nenne ich mich,
so oder so; es gibt ja zwingende Situationen; ich schütze dann einen
erfundenen Namen vor. Ich denke, Sie legen auf diese Formalität kein
Gewicht.«
Immerhin ein merkwürdiger Geselle, dachte Mörner und sah geradeaus
auf das Pflaster. So auch, vor sich hin, erkundigte er sich: »Sie sind
fremd in der Stadt? Seit kurzem erst hier, wenn ich fragen darf?« Er ist
es, dachte er wieder, und mit einer Anwandlung von Haß: wozu die
gezierten Vorbereitungen? weshalb spielt er Verstecken mit mir? was
ist seine Absicht?
»Ja, ich bin fremd,« gestand der Herr mit seiner leisen, freundlich und
rücksichtsvoll klingenden Stimme; »aber daran bin ich gewöhnt. Ich
bin eigentlich überall fremd. Das heißt, obenhin betrachtet, bin ich
fremd, genau genommen nicht. Ich reise fortwährend, wissen Sie, bin
immer wo anders, ohne festes Domizil. Ich liebe es
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