wie in der gegenwärtigen, das
stürmisch fließende Schicksal soviel rohes Material ans Ufer
schwemme, in einer solchen Epoche müsse die schaffende Phantasie
durch ein automatisch funktionierendes Ausgleichsgesetz erlahmen;
erst spätere Geschlechter seien wahrscheinlich imstande, das chaotisch
Hingeworfene, Strandgut der Geschichte, zu neuen Bauten zu benutzen.
Daher der Verfall der Kunst, daher das Versagen der Künstler.
Mörner, der bislang schweigend zugehört hatte, unentschlossenen
Anteil in den Mienen, zuckte plötzlich auf. Es war eine nicht sehr
taktvolle Äußerung im Hinblick auf ihn, das empfanden alle, auch der
Sprechende selbst, der errötend abbrach. Aber sie war nun einmal getan.
Mörner erhob die Hand mit gespreizten Fingern, als wolle er verhüten,
daß ihm ein anderer im Wort zuvorkomme und sagte: »Ach nein, nein,
nein. Unleugbar steht uns die Zeit entgegen, aber nicht wegen der
Überfülle des Geschehens, sondern wegen der Zerstörung der Geister
und der Seelen. Von welchen Flammenausbrüchen genialer Naturen
sind vergangene Umwälzungen begleitet gewesen! Wollt ihr Namen?
Sie wimmeln. Jede Revolution hat Propheten und Gestalter aus ihrem
Schoß geboren; einen, der die Eroica in die brüllende Woge schleuderte,
einen, der seinem grandiosen Schmerz die Hermannsschlacht entriß,
einen, der mitten in gewaltigen Gärungen die Tribüne der #Comedie
humaine# errichtete. Gerufen von der Sehnsucht ihrer Welt, gaben sie
ihr Stimme und Bild, wiesen ihr die Wurzel und den Gipfel ihres
Geschicks. Heute aber? War jemals eine Menschheit so zu Boden
getreten? Sagt mir nicht, er sei vielleicht da, irgendwo unter uns, der
glühende Zeuge und wunderbare Architekt, und ich vermöchte ihn bloß
nicht zu sehen und zu hören. Du und du und Sie und Sie und ich,
warum sollten ihn wir nicht ahnen, nicht kennen? Würden nicht unsere
Nerven bei seinem geringsten Hauch vibrieren? Wäre er nicht Fleisch
von unserm Fleisch, Blut von unserm Blut? wer sollte ihn wissen, wenn
nicht wir? Es gibt ihn nicht. Seine Entstehung schon wird im Keime
erstickt. Der Schoß ist unfruchtbar geworden, es kommt nicht mehr bis
zur Kristallbildung; es bleibt beim Ansatz; in den Elementen ist kein
Wille, sich zu ballen; die ruhende Sehnsucht ist nicht produktiv. War
jemals eine Menschheit so zu Boden getreten? frag ich noch einmal; so
müde, so stumpf, so entblättert, so kurz von Atem und so kühl im Hirn?
Spürt ihr es nicht, wie keine Resonnanz wird? Kein Sinn will mehr
aufnehmen; es sei denn die gröbste Nahrung; nichts ist Besitz, alles
Erwerb; nichts Erlebnis, alles Kitzel; keinem Gemüt prägt sich das
Wesen ein, nur die Verzerrung davon; die Ehrfurcht ist geschwunden,
die Überlieferung abgeschnitten, der Glaube tot, das Wissen ein
mörderisches Narkotikum. Kein Zusammenhang und Zusammenklang,
in der Höhe nicht, in der Tiefe nicht, bei den Guten nicht, bei den
Bösen nicht. Hinten versinkt alles in Abgründen, vorne öffnen sie sich.
Panische Flucht nach allen Seiten; Angst, sich zu verpflichten, Angst
vor der Hand, die sich bietet, Angst vor dem Schmerz, Angst vor der
Wahl, Angst vor jeglicher Entscheidung, Angst sogar vor der
Erinnerung an den verlorenen Gott. Und wird euch denn nicht ebenfalls
Angst, wenn ihr die Heraufkommenden betrachtet, diese Zuchtlosen,
ihre Lust an der Raserei, an der Tobsucht des frierenden Verstandes;
ihren Götzendienst vor der Chimäre, den Kultus vor dem Golem, die
grauenvoll ummauerte Isolierung eines jeden, in der er, um sich und die
andern Isolierten zu betäuben, wie ein verrückt gewordener Anachoret
nach Verbrüderung schreit, rachsüchtig und voll Haß in seiner
Wehleidigkeit? Was soll werden? Man kann eine Ruine aufbauen,
wenn das Material noch halbwegs brauchbar ist, aber aus morschem
Plankenwerk und wurmstichigen Brettern ein seetüchtiges Fahrzeug
zimmern, das ist unmöglich. Da habt ihr die Krankheit. Da ist es
aufgerollt, das Gemälde der Katastrophe, meiner und aller derer, die
noch gutgläubig oder weil sie sich der schrecklichen Klarheit eine
Weile noch verschließen wollen, am Werke sind. Morituri te salutant.
Es ist kein Cäsar da; grüßt man also die Blinden und Tauben, die
unsere Geschicke lenken? Sie bilden sich nur ein, zu lenken, sie werden
mitgeschleift und mitzerschmettert.«
Während er so sprach, hatte es Mörner geschienen, daß die Tür
aufgegangen und jemand eingetreten war. Er schaute sich um, bemerkte
aber keinen Hinzugekommenen, auch verriet nichts in den Mienen der
Freunde, daß sie eine gleiche Wahrnehmung gemacht. Die Augen
ruhten groß auf ihm, mit scheuem und betroffenem Ausdruck. Indessen
wich das Unbehagen nicht von ihm, das die verborgene Anwesenheit
eines Fremden verursacht. Sein suchender Blick prüfte die Gesichter.
Es war kein neues darunter; er kannte jedes. Doch dünkte es ihn, im
Hintergrund des Raums, zwischen Flügel und Bücherkasten, wo das
Licht sich verlor, sitze eine Person, die vorher nicht dagewesen war. Er
wagte es nicht, sich zu vergewissern, hielt aber das Gefühl für
untrüglich.
Die wohllautende Stimme eines jungen Mädchens sagte: »Ist denn
nicht, wer schafft, im tiefsten Sinne ohne Zeit? Ist es denn diese eine,
nahe, bestimmte Welt, die ihm notwendig ist, und nicht vielmehr eine
übertragene obere, die sein Traum
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