Der Tod in Venedig | Page 3

Thomas Mann
heute wieder, wie gestern schon,
hatte verlassen müssen und die weder geduldiger Pflege noch einem
raschen Handstreich sich fügen zu wollen schien. Er prüfte sie aufs
neue, versuchte die Hemmung zu durchbrechen oder aufzulösen und
ließ mit einem Schauder des Widerwillens vom Angriff ab. Hier bot
sich keine außerordentliche Schwierigkeit, sondern was ihn lähmte,
waren die Skrupeln der Unlust, die sich als eine durch nichts mehr zu
befriedigende Ungenügsamkeit darstellte. Ungenügsamkeit freilich
hatte schon dem Jüngling als Wesen und innerste Natur des Talentes
gegolten, und um ihretwillen hatte er das Gefühl gezügelt und erkältet,
weil er wußte, daß es geneigt ist, sich mit einem fröhlichen Ungefähr
und mit einer halben Vollkommenheit zu begnügen. Rächte sich nun
also die geknechtete Empfindung, indem sie ihn verließ, indem sie
seine Kunst fürder zu tragen und zu beflügeln sich weigerte und alle
Lust, alles Entzücken an der Form und am Ausdruck mit sich
hinwegnahm? Nicht, daß er Schlechtes herstellte: Dies wenigstens war
der Vorteil seiner Jahre, daß er sich seiner Meisterschaft jeden
Augenblick in Gelassenheit sicher fühlte. Aber er selbst, während die
Nation sie ehrte, er ward ihrer nicht froh, und es schien ihm, als
ermangle sein Werk jener Merkmale feurig spielender Laune, die, ein
Erzeugnis der Freude, mehr als irgend ein innerer Gehalt, ein
gewichtigerer Vorzug, die Freude der genießenden Welt bildeten. Er
fürchtete sich vor dem Sommer auf dem Lande, allein in dem kleinen
Hause mit der Magd, die ihm das Essen bereitete, und dem Diener, der
es ihm auftrug; fürchtete sich vor den vertrauten Angesichten der
Berggipfel und-wände, die wiederum seine unzufriedene Langsamkeit
umstehen würden. Und so tat denn eine Einschaltung not, etwas
Stegreifdasein, Tagdieberei, Fernluft und Zufuhr neuen Blutes, damit
der Sommer erträglich und ergiebig werde. Reisen also,--er war es

zufrieden. Nicht gar weit, nicht gerade bis zu den Tigern. Eine Nacht
im Schlafwagen und eine Siesta von drei, vier Wochen an irgend einem
Allerweltsferienplatze im liebenswürdigen Süden...
So dachte er, während der Lärm der elektrischen Tram die
Ungererstraße daher sich näherte, und einsteigend beschloß er, diesen
Abend dem Studium von Karte und Kursbuch zu widmen. Auf der
Plattform fiel ihm ein, nach dem Manne im Basthut, dem Genossen
dieses immerhin folgereichen Aufenthaltes, Umschau zu halten. Doch
wurde ihm dessen Verbleib nicht deutlich, da er weder an seinem
vorherigen Standort, noch auf dem weiteren Halteplatz, noch auch im
Wagen ausfindig zu machen war.

Zweites Kapitel
Der Autor der klaren und mächtigen Prosa-Epopöe vom Leben
Friedrichs von Preußen; der geduldige Künstler, der in langem Fleiß
den figurenreichen, so vielerlei Menschenschicksal im Schatten einer
Idee versammelnden Romanteppich, »Maja« mit Namen, wob; der
Schöpfer jener starken Erzählung, die »Ein Elender« überschrieben ist
und einer ganzen dankbaren Jugend die Möglichkeit sittlicher
Entschlossenheit jenseits der tiefsten Erkenntnis zeigte; der Verfasser
endlich (und damit sind die Werke seiner Reifezeit kurz bezeichnet) der
leidenschaftlichen Abhandlung über »Geist und Kunst«, deren
ordnende Kraft und antithetische Beredsamkeit ernste Beurteiler
vermochte, sie unmittelbar neben Schillers Raisonnement über naive
und sentimentalische Dichtung zu stellen: Gustav Aschenbach also war
zu L., einer Kreisstadt der Provinz Schlesien, als Sohn eines höheren
Justizbeamten geboren. Seine Vorfahren waren Offiziere, Richter,
Verwaltungsfunktionäre gewesen, Männer, die im Dienste des Königs,
des Staates, ihr straffes, anständig karges Leben geführt hatten.
Innigere Geistigkeit hatte sich einmal, in der Person eines Predigers,
unter ihnen verkörpert; rascheres, sinnlicheres Blut war der Familie in
der vorigen Generation durch die Mutter des Dichters, Tochter eines
böhmischen Kapellmeisters, zugekommen. Von ihr stammten die
Merkmale fremder Rasse in seinem Äußern. Die Vermählung dienstlich
nüchterner Gewissenhaftigkeit mit dunkleren, feurigeren Impulsen ließ
einen Künstler und diesen besonderen Künstler erstehen. Da sein
ganzes Wesen auf Ruhm gestellt war, zeigte er sich, wenn nicht

eigentlich früh reif, so doch, dank der Entschiedenheit und persönlichen
Prägnanz seines Tonfalls früh für die Öffentlichkeit reif und geschickt.
Beinahe noch Gymnasiast, besaß er einen Namen. Zehn Jahre später
hatte er gelernt, von seinem Schreibtische aus zu repräsentieren, seinen
Ruhm zu verwalten in einem Briefsatz, der kurz sein mußte (denn viele
Ansprüche drängen auf den Erfolgreichen, den Vertrauenswürdigen
ein), gütig und bedeutend zu sein. Der Vierziger hatte, ermattet von den
Strapazen und Wechselfällen der eigentlichen Arbeit, alltäglich eine
Post zu bewältigen, die Wertzeichen aus aller Herren Ländern trug.
Ebensoweit entfernt vom Banalen wie vom Exzentrischen, war sein
Talent geschaffen, den Glauben des breiten Publikums und die
bewundernde, fordernde Teilnahme der Wählerischen zugleich zu
gewinnen. So, schon als Jüngling von allen Seiten auf die
Leistung--und zwar die außerordentliche--verpflichtet, hatte er niemals
den Müßiggang, niemals die Fahrlässigkeit der Jugend gekannt. Als er
um sein fünfunddreißigstes Jahr in Wien erkrankte, äußerte ein feiner
Beobachter über ihn in Gesellschaft: »Sehen Sie, Aschenbach hat von
jeher nur so gelebt«--und der Sprecher schloß die Finger seiner Linken
fest zur Faust--; »niemals so«--und er ließ die geöffnete Hand bequem
von der Lehne des Sessels hängen. Das traf zu; und das Tapfer-Sittliche
daran
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