Der Tod in Venedig | Page 2

Thomas Mann
und lang

dazwischen hervorbleckten.
Wohl möglich, daß Aschenbach es bei seiner halb zerstreuten, halb
inquisitiven Musterung des Fremden an Rücksicht hatte fehlen lassen;
denn plötzlich ward er gewahr, daß jener seinen Blick erwiderte und
zwar so kriegerisch, so gerade ins Auge hinein, so offenkundig
gesonnen, die Sache aufs Äußerste zu treiben und den Blick des andern
zum Abzug zu zwingen, daß Aschenbach, peinlich berührt, sich
abwandte und einen Gang die Zäune entlang begann, mit dem
beiläufigen Entschluß, des Menschen nicht weiter achtzuhaben. Er
hatte ihn in der nächsten Minute vergessen. Mochte nun aber das
Wandererhafte in der Erscheinung des Fremden auf seine
Einbildungskraft gewirkt haben oder sonst irgendein physischer oder
seelischer Einfluß im Spiele sein: eine seltsame Ausweitung seines
Innern ward ihm ganz überraschend bewußt, eine Art schweifender
Unruhe, ein jugendlich durstiges Verlangen in die Ferne, ein Gefühl, so
lebhaft, so neu oder doch so längst entwöhnt und verlernt, daß er, die
Hände auf dem Rücken und den Blick am Boden, gefesselt stehen blieb,
um die Empfindung auf Wesen und Ziel zu prüfen. Es war Reiselust,
nichts weiter; aber wahrhaft als Anfall auftretend und ins
Leidenschaftliche, ja bis zur Sinnestäuschung gesteigert. Er sah
nämlich, als Beispiel gleichsam für alle Wunder und Schrecken der
mannigfaltigen Erde, die seine Begierde sich auf einmal vorzustellen
trachtete,--sah wie mit leiblichem Auge eine ungeheuere Landschaft,
ein tropisches Sumpfgebiet unter dickdunstigem Himmel, feucht, üppig
und ungesund, eine von Menschen gemiedene Urweltwildnis aus Inseln,
Morästen und Schlamm führenden Wasserarmen. Die flachen Eilande,
deren Boden mit Blättern, so dick wie Hände, mit riesigen Farnen, mit
fettem, gequollenem und abenteuerlich blühendem Pflanzenwerk
überwuchert war, sandten haarige Palmenschäfte empor, und
wunderlich ungestalte Bäume, deren Wurzeln dem Stamm entwuchsen
und sich durch die Luft in den Boden, ins Wasser senkten, bildeten
verworrene Waldungen. Auf der stockenden, grünschattig spiegelnden
Flut schwammen, wie Schüsseln groß, milchweiße Blumen; Vögel von
fremder Art, hochschultrig, mit unförmigen Schnäbeln, standen auf
hohen Beinen im Seichten und blickten unbeweglich zur Seite,
während durch ausgedehnte Schilffelder ein klapperndes Wetzen und
Rauschen ging, wie durch Heere von Geharnischten; dem Schauenden

war es, als hauchte der laue, mephitische Odem dieser geilen und
untauglichen Öde ihn an, die in einem ungeheuerlichen Zustande von
Werden oder Vergehen zu schweben schien, zwischen den knotigen
Rohrstämmen eines Bambusdickichts glaubte er einen Augenblick die
phosphoreszierenden Lichter des Tigers funkeln zu sehen--und fühlte
sein Herz pochen vor Entsetzen und rätselhaftem Verlangen. Dann
wich das Gesicht; und mit einem Kopfschütteln nahm Aschenbach
seine Promenade an den Zäunen der Grabsteinmetzereien wieder auf.
Er hatte, zum mindesten seit ihm die Mittel zu Gebote gewesen wären,
die Vorteile des Weltverkehrs beliebig zu genießen, das Reisen nicht
anders denn als eine hygienische Maßregel betrachtet, die gegen Sinn
und Neigung dann und wann hatte getroffen werden müssen. Zu
beschäftigt mit den Aufgaben, welche sein Ich und die europäische
Seele ihm stellten, zu belastet von der Verpflichtung zur Produktion,
der Zerstreuung zu abgeneigt, um zum Liebhaber der bunten
Außenwelt zu taugen, hatte er sich durchaus mit der Anschauung
begnügt, die heute jedermann, ohne sich weit aus seinem Kreise zu
rühren, von der Oberfläche der Erde gewinnen kann, und war niemals
auch nur versucht gewesen, Europa zu verlassen. Zumal seit sein Leben
sich langsam neigte, seit seine Künstlerfurcht, nicht fertig zu
werden,--diese Besorgnis, die Uhr möchte abgelaufen sein, bevor er das
Seine getan und völlig sich selbst gegeben, nicht mehr als bloße Grille
von der Hand zu weisen war, hatte sein äußeres Dasein sich fast
ausschließlich auf die schöne Stadt, die ihm zur Heimat geworden, und
auf den rauhen Landsitz beschränkt, den er sich im Gebirge errichtet
und wo er die regnerischen Sommer verbrachte.
Auch wurde denn, was ihn da eben so spät und plötzlich angewandelt,
sehr bald durch Vernunft und von jung auf geübte Selbstzucht
gemäßigt und richtig gestellt. Er hatte beabsichtigt, das Werk, für
welches er lebte, bis zu einem gewissen Punkte zu fördern, bevor er
aufs Land übersiedelte, und der Gedanke einer Weltbummelei, die ihn
auf Monate seiner Arbeit entführen würde, schien allzu locker und
planwidrig, er durfte nicht ernstlich in Frage kommen. Und doch wußte
er nur zu wohl, aus welchem Grunde die Anfechtung so unversehens
hervorgegangen war. Fluchtdrang war sie, daß er es sich eingestand,
diese Sehnsucht ins Ferne und Neue, diese Begierde nach Befreiung,
Entbürdung und Vergessen,--der Drang hinweg vom Werke, von der

Alltagsstätte eines starren, kalten und leidenschaftlichen Dienstes. Zwar
liebte er ihn und liebte auch fast schon den entnervenden, sich täglich
erneuernden Kampf zwischen seinem zähen und stolzen, so oft
erprobten Willen und dieser wachsenden Müdigkeit, von der niemand
wissen und die das Produkt auf keine Weise, durch kein Anzeichen des
Versagens und der Laßheit verraten durfte. Aber verständig schien es,
den Bogen nicht zu überspannen und ein so lebhaft ausbrechendes
Bedürfnis nicht eigensinnig zu ersticken. Er dachte an seine Arbeit,
dachte an die Stelle, an der er sie auch
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