Der Tod in Venedig | Page 4

Thomas Mann
war, daß seine Natur von nichts weniger als robuster Verfassung
und zur ständigen Anspannung nur berufen, nicht eigentlich geboren
war.
Ärztliche Fürsorge hatte den Knaben vom Schulbesuch ausgeschlossen
und auf häuslichen Unterricht gedrungen. Einzeln, ohne Kameradschaft
war er aufgewachsen und hatte doch zeitig erkennen müssen, daß er
einem Geschlecht angehörte, in dem nicht das Talent, wohl aber die
physische Basis eine Seltenheit war, deren das Talent zu seiner
Erfüllung bedarf,--einem Geschlechte, das früh sein Bestes zu geben
pflegt und in dem das Können es selten zu Jahren bringt. Aber sein
Lieblingswort war »Durchhalten«,--er sah in seinem Friedrich-Roman
nichts anderes als die Apotheose dieses Befehlswortes, das ihm als der
Inbegriffleitend-tätiger Tugend erschien. Auch wünschte er sehnlichst,
alt zu werden, denn er hatte von jeher dafür gehalten, daß wahrhaft
groß, umfassend, ja wahrhaft ehrenwert nur das Künstlertum zu nennen
sei, dem es beschieden war, auf allen Stufen des Menschlichen
charakteristisch fruchtbar zu sein.

Da er also die Aufgaben, mit denen sein Talent ihn belud, auf zarten
Schultern tragen und weit gehen wollte, so bedurfte er höchlich der
Zucht,--und Zucht war ja zum Glücke sein eingeborenes Erbteil von
väterlicher Seite. Mit vierzig, mit fünfzig Jahren wie schon in einem
Alter, wo andere verschwenden, schwärmen, die Ausführung großer
Pläne getrost verschieben, begann er seinen Tag beizeiten mit Stürzen
kalten Wassers über Brust und Rücken und brachte dann, ein Paar
hoher Wachskerzen in silbernen Leuchtern zu Häupten des
Manuskripts, die Kräfte, die er im Schlaf gesammelt, in zwei oder drei
inbrünstig gewissenhaften Morgenstunden der Kunst zum Opfer dar. Es
war verzeihlich, ja, es bedeutete recht eigentlich den Sieg seiner
Moralität, wenn Unkundige die Maja-Welt oder die epischen Massen,
in denen sich Friedrichs Heldenleben entrollte, für das Erzeugnis
gedrungener Kraft und eines langen Atems hielten, während sie
vielmehr in kleinen Tagewerken aus hundert Einzelinspirationen zur
Größe emporgeschichtet und nur darum so durchaus und an jedem
Punkte vortrefflich waren, weil ihr Schöpfer mit einer Willensdauer
und Zähigkeit, derjenigen ähnlich, die seine Heimatprovinz eroberte,
jahrelang unter der Spannung eines und desselben Werkes ausgehalten
und an die eigentliche Herstellung ausschließlich seine stärksten und
würdigsten Stunden gewandt hatte.
Damit ein bedeutendes Geistesprodukt auf der Stelle eine breite und
tiefe Wirkung zu üben vermöge, muß eine tiefe Verwandtschaft, ja
Übereinstimmung zwischen dem persönlichen Schicksal seines
Urhebers und dem allgemeinen des mitlebenden Geschlechtes bestehen.
Die Menschen wissen nicht, warum sie einem Kunstwerk Ruhm
bereiten. Weit entfernt von Kennerschaft, glauben sie hundert Vorzüge
daran zu entdecken, um so viel Teilnahme zu rechtfertigen; aber der
eigentliche Grund ihres Beifalls ist ein Unwägbares, ist Sympathie.
Aschenbach hatte es einmal an wenig sichtbarer Stelle unmittelbar
ausgesprochen, daß beinahe alles Große, was dastehe, als ein Trotzdem
dastehe, trotz Kummer und Qual, Armut, Verlassenheit,
Körperschwäche, Laster, Leidenschaft und tausend Hemmnissen
zustande gekommen sei. Aber das war mehr als eine Bemerkung, es
war eine Erfahrung, war geradezu die Formel seines Lebens und
Ruhmes, der Schlüssel zu seinem Werk; und was Wunder also, wenn es
auch der sittliche Charakter, die äußere Gebärde seiner

eigentümlichsten Figuren war?
Über den neuen, in mannigfach individuellen Erscheinungen
wiederkehrenden Heldentyp, den dieser Schriftsteller bevorzugte, hatte
schon frühzeitig ein kluger Zergliederer geschrieben: daß er die
Konzeption »einer intellektuellen und jünglinghaften Männlichkeit« sei,
»die in stolzer Scham die Zähne aufeinanderbeißt und ruhig dasteht,
während ihr die Schwerter und Speere durch den Leib gehen«. Das war
schön, geistreich und exakt, trotz seiner scheinbar allzu passivischen
Prägung. Denn Haltung im Schicksal, Anmut in der Qual bedeutet nicht
nur ein Dulden; sie ist eine aktive Leistung, ein positiver Triumph, und
die Sebastian-Gestalt ist das schönste Sinnbild, wenn nicht der Kunst
überhaupt, so doch gewiß der in Rede stehenden Kunst. Blickte man
hinein in diese erzählte Welt, sah man die elegante Selbstbeherrschung,
die bis zum letzten Augenblick eine innere Unterhöhlung, den
biologischen Verfall vor den Augen der Welt verbirgt; die gelbe,
sinnlich benachteiligte Häßlichkeit, die es vermag, ihre schwelende
Brunst zur reinen Flamme zu entfachen, ja, sich zur Herrschaft im
Reiche der Schönheit aufzuschwingen; die bleiche Ohnmacht, welche
aus den glühenden Tiefen des Geistes die Kraft holt, ein ganzes
übermütiges Volk zu Füßen des Kreuzes, zu ihren Füßen
niederzuwerfen; die liebenswürdige Haltung im leeren und strengen
Dienste der Form; das falsche, gefährliche Leben, die rasch
entnervende Sehnsucht und Kunst des gebornen Betrügers: betrachtete
man all dies Schicksal und wieviel gleichartiges noch, so konnte man
zweifeln, ob es überhaupt einen anderen Heroismus gäbe, als
denjenigen der Schwäche. Welches Heldentum aber jedenfalls wäre
zeitgemäßer als dieses? Gustav Aschenbach war der Dichter all derer,
die am Rande der Erschöpfung arbeiten, der Überbürdeten, schon
Aufgeriebenen, sich noch Aufrechthaltenden, all dieser Moralisten der
Leistung, die, schmächtig von Wuchs und spröde von Mitteln, durch
Willensverzückung und kluge Verwaltung sich wenigstens eine
Zeitlang die Wirkungen der Größe abgewinnen. Ihrer sind viele, sie
sind die Helden des Zeitalters. Und sie alle erkannten sich wieder in
seinem Werk, sie fanden sich bestätigt,
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