Der Streit Über die Tragödie | Page 9

Theodor Lipps
sich nicht auch bei
ihnen ein frevelhafter Eingriff in die sittliche Weltordnung
auffinden?--obgleich wir einstweilen nicht wissen, wo er gefunden
werden sollte.
Hier gilt zunächst ein Einwand: es giebt keine Pflicht, die über die
Pflicht der Aufrechterhaltung der eigenen sittlichen Persönlichkeit

ginge, keinen sittlichen Zweck, dem die eigene sittliche Würde geopfert
werden müßte, keine Forderung: Wirf dich selbst weg, damit für die
Welt Gutes daraus entstehe.
Aber dies ist uns hier nicht das Wesentlichste.--Wo ist denn in
SOPHOKLES' ANTIGONE der Staat, das Staatswohl, die Staatswürde?
Wo pflegen denn in Tragödien überhaupt die Welt, die Weltgeschichte,
die Menschheit aufzutreten? Die Frage klingt trivial. So trivial sie
klingt, so entscheidend ist sie.
Wir kommen damit von neuem auf den eigentlichen Grundirrtum aller
Weltanschauungstheorien. Das Kunstwerk, so sahen wir, repräsentiert
eine Welt für sich und nichts geht uns bei seiner Betrachtung an und
kann für seine Beurteilung in Betracht kommen, was nicht eben dieser
Welt angehört. Dabei muß es bleiben, mag nun das Nichtdazugehörige
Staat, Volk, Welt, Weltgeschichte, Weltordnung oder sonstwie heißen.
Ich suche diese Wahrheit, weil sie von so großer Wichtigkeit ist, hier
noch an einem Beispiel aus einem anderen Kunstgebiet zu illustrieren.
Was würde man sagen, wenn jemand bei der Betrachtung einer
Bauernscene von ADRIAN VAN OSTADE Reflexionen darüber
anstellte, ob die Bauern auf dem Bilde nicht besser thäten zu arbeiten
und für ihr und ihrer Familie gedeihliches Fortkommen zu sorgen, als
so den Tag zu verlungern; ob sie durch ihre Trägheit nicht Pflichten
verletzen gegen ihre Dorfgemeinde, gegen den Staat, schließlich gegen
die Menschheit?--
Ich denke die Antwort wäre einfach genug. Man würde--entweder dem
Lästigen den Rücken kehren, oder ihn folgendermaßen zu belehren
suchen. Die Bauern auf diesem Bilde, so würde man sagen, sind, wie
du siehst, nicht wirkliche, sondern gemalte, nicht der Welt der
Wirklichkeit, sondern der Welt des Bildes angehörige Bauern, und als
solche können sie keine Verpflichtungen verletzen, als solche, die
ihnen im Bilde entgegentreten und da von ihnen verletzt werden. So ist
beispielsweise keine Gefahr, daß sie durch ihr Gebahren irgend eine,
irgendwo in der wirklichen Welt vorhandene Dorfgemeinde schädigen.
Sie können dies so wenig, als diese Dorfgemeinde sie in ihrer Trägheit
und ihrem Behagen zu stören vermöchte. Das eine wie das andere

könnte nur geschehen, wenn auch die Dorfgemeinde auf dem Bilde
gegenwärtig wäre, also Bauern und Dorfgemeinde derselben Welt
künstlerischer Darstellung angehörten, und wenn zugleich der Konflikt
zwischen beiden mitgemalt wäre, oder aus der Darstellung ohne freie
Zuthat des Beschauers einleuchtete.
Die Erde, so könnte der Belehrende verdeutlichend fortfahren, ist, wie
du weißt, vom Monde sehr weit entfernt, so weit, daß von uns
Erdbewohnern eine Berücksichtigung der Zwecke der etwaigen
Mondbewohner mit Fug und Recht nicht verlangt werden kann.
Sehr viel größer aber noch ist die Entfernung zwischen der Welt dieses
Bildes und der Welt der Wirklichkeit, oder unserer die Wirklichkeit
betreffenden Gedanken. Sie ist genau so groß, wie überhaupt die
Entfernung zwischen der Welt der Objekte, die nur in der Phantasie
und für sie existieren, von der Welt der Wirklichkeit zu sein pflegt,
nämlich unendlich groß. Es besteht eine absolute Kluft zwischen
beiden Welten, die jeden Weg zwischen ihnen und jede
Wechselwirkung völlig ausschließt. Diese Kluft ist, obgleich sie
ohnehin einleuchtet, doch zum Überfluß versinnlicht durch den
Rahmen des Bildes. In den Rahmen ist das Bild eingeschlossen, er
schließt die Welt des Bildes ab. Damit ist uns gesagt, bis wohin bei
Betrachtung des Bildes unsere Gedanken reichen sollen.
Was dann das Bild wolle?--Es will behagliches, sorgloses, humorvolles
Dasein vor Augen stellen. Glück in der Beschränkung, auch wohl in der
Beschränktheit. Den Wert, den dieses Glück an sich, so wie wir es da
sehen, besitzt, nicht im Zusammenhang der Welt und Weltordnung,
von dem nun einmal hier keine Rede ist, sondern abgesehen davon,
diesen Wert will uns das Bild eindringlich machen und genießen lassen.
Eben dazu ist es da, diese Heraushebung und Isolierung zum Zweck
des reinen durch keine Weltrücksichten gestörten Genusses macht es
zum Kunstwerk.--
Ganz ebenso nun, wie mit diesem Bilde, verhält es sich auch mit der
Tragödie. So wie jene OSTADEschen Bauern keine Pflichten verletzen
können, außer solchen, die ihnen im Bilde entgegentreten und da von
ihnen verletzt werden, so können sich die Personen einer Tragödie an

keinem Staat oder Volk, keiner Welt, Weltgeschichte oder
Weltordnung versündigen, außer soweit der Dichter dergleichen in der
Tragödie, in den Personen, ihren Worten und Handlungen sich
verkörpern oder zur Darstellung gelangen läßt, und sie versündigen
sich dagegen immer genau soweit, als sie eben in der Tragödie, der sie
nun einmal ausschließlich angehören, sich dagegen versündigen.
Niemand fürchtet, wenn der Held auf der Bühne Drohungen ausstößt,
für die Sicherheit des Theaterpublikums und bietet zu seinem Schutze
die städtische Polizei auf. Hier ist man sich der absoluten Trennung
zwischen der Welt des Kunstwerkes und der sonstigen Welt wohl
bewußt. Man weiß, jene Welt reicht bis zur Umrahmung der Bühne
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