Wollen soll sich versündigen, wohl aber dasjenige,
das seine "natürlichen und sittlichen Schranken" überschreitet. Aber
was heißt dies? Ich kann zunächst die "natürlichen" Schranken meines
Wollens in verschiedenem Sinne überschreiten. Ich will oder
unterfange mich zu thun, was ich nicht hinausführen kann. Wenn ich
aber im Voraus nicht weiß, oder nicht wissen kann, welche Umstände
mein Wollen durchkreuzen werden, wenn der Zufall meine Absichten
scheitern läßt?--Dann ist es lobenswert, daß ich gewollt habe, wenn und
in dem Maße, als Ziel und Motiv meines Wollens löblich waren. Oder
ich vertraute auf meine Kraft; auch solches Selbstvertrauen ist gut. Ja
selbst, wenn mich der heftige Drang eines nicht unedlen Wollens der
besseren Verstandeseinsicht zum Trotz an die Möglichkeit der
Erreichung des Zieles glauben und in diesem Glauben handeln läßt, so
hat dies größeren inneren Wert, als wenn es der kühlen Einsicht so
leicht gelungen wäre mich zur Aufgabe meines Wollens zu bringen.
Der Leichtsinn freilich, der die Augen schließt, wo die bessere Einsicht
sich aufdrängt, der Übermut, das hartnackige Festhalten des sichtlich
Unmöglichen, sie verdienen Tadel. Aber immer bleibt auch hier das
gute Wollen gut. Und nicht "streng", aber bei aller Strenge doch
gerecht, sondern ungerecht wäre die Strafe, die nur jenes Tadelnswerte
ansähe und den guten Kern des Wollens, das Treibende der guten
Gesinnung für nichts achtete.
Doch in dem Falle, von dem wir ausgingen, und vielen anderen,
handelt es sich ja um kein Wollen, das in diesem Sinne seine
natürlichen Schranken überschritte. ANTIGONE will nicht, was nicht
in ihrer Macht läge. Sie will an ihrem Bruder die letzte Liebespflicht
üben und sie übt sie. Nicht minder vollbringen MARIA STUART und
EMILIA GALOTTI, was sie wollen.
Nur in einem völlig anderen Sinne stoßen überhaupt die genannten,
ebensogut wie alle tragischen Helden, mit Schranken ihres Wollens
zusammen. Indem sie ihr Wollen verwirklichen, kommen sie in
Konflikt mit der Macht des Schicksals und der Macht der Menschen,
die für sie das Schicksal bedeuten. Sie beugen sich nicht vor solcher
Macht; darum gehen sie unter. Daß sie sich nicht beugen, darin besteht
ihr "Überschreiten der natürlichen Schranken"; sie sind "unmäßig" oder
"übermäßig" in ihrem Wollen, wenn in der Geneigtheit, vor der Macht
sich zu beugen, das "Maß" besteht. ANTIGONE bleibt bei ihrer Liebe
dem Tyrannen KREON zum Trotz; darum muß sie sterben. MARIA
STUART, deren Frauenwürde mit Füßen getreten wird, richtet sich
stolz auf gegen ihre Feindin und entscheidet damit ihr Schicksal. Und
auch EMILIA GALOTTI brauchte nicht zu sterben, wenn sie nicht ihre
Unschuld gegen den Prinzen, in dem sich die Macht der Verführung
mit der äußeren Macht vereinigt, aufrechterhalten wollte. Ist solche
"Unmäßigkeit" des Wollens Sünde, dann allerdings sind alle die
Genannten schuldig.--In der That ist es vielfach nichts anderes, als
diese "Unmäßigkeit", die man den tragischen Helden zur Last zu legen
weiß. Die "absolute" Moral, sie schlägt hier schließlich um in die
bekannte Moral FALSTAFFs, nur daß FALSTAFF an der Stelle des
Wortes Unmäßigkeit oder Übermaß, das weniger philosophisch
klingende Wort "Vorsicht" gebraucht, und daß bei ihm die Vorsicht nur
der bessere Teil der Tapferkeit, nicht wie hier, der bessere Teil aller
Tugend überhaupt ist.
Es ist eben die ganze Theorie der Versündigung durch Verletzung
natürlicher Schranken ein Widerspruch in sich selbst. Nicht was ist, ist
heilig, sondern was ist, wie es sein soll. Dies ist keine Wahrheit, die
man zu beweisen brauchte, sondern eine Tautologie. Nicht durch
Verletzung dessen, was ist, nur durch Verletzung dessen, was sein soll,
kann ich mich versündigen.
Es giebt aber freilich eine Stufenordnung dessen, was sein soll; ein
System einander unter- und übergeordneter sittlicher Zwecke. Ein
Inhalt meines Wollens mag an sich gut sein, aber er widerstreitet einem
höheren sittlichen Zweck; dann ist mein Wollen doch böse. Jene
Stufenordnung sittlicher Zwecke, jene Ordnung des Seinsollenden, das
ist die sittliche Weltordnung. Ihr entspricht die natürliche Ordnung der
Dinge, oder sie entspricht ihr nicht. Soweit sie ihr entspricht, ist in der
natürlichen Ordnung der Dinge die "Idee" verwirklicht. Oder was sollte
die Idee anders sein, als der Inbegriff oder die Einheit des
Seinsollenden. Die Verletzung dieser sittlichen Weltordnung, oder der
natürlichen, soweit sie mit der sittlichen sich deckt, die nur ist
Auflehnung gegen die Idee und ist Sünde.
Erst von hier aus kann die Frage gestellt werden, in wiefern doch am
Ende auch das beste Wollen der tragischen Helden Verschuldung in
sich schließen könne. Zugegeben, daß ANTIGONEs Wollen auf Edles
gerichtet war. Aber hätte sie nicht durch die Rücksicht, zwar nicht auf
KREONs Macht, aber doch auf das Wohl oder die Würde des Staates,
dessen Herrscher er ist, sich abhalten lassen müssen, die Pflicht zu üben,
die ihr die Liebe and das Gebot der Götter auferlegten? Hat nicht
vielleicht MARIA STUART durch ihre Art der ELISABETH
entgegenzutreten an der Zukunft ihres Volkes, an der Weltgeschichte,
der Entwickelung der Menschheit oder dergl. sich versündigt? Und
EMILIA GALOTTI und DESDEMONA? Ließe
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