wenn es nicht vielmehr sittliche Verblendung ist,
kann nur durch das Böse am Menschen verletzt, also auch nur dadurch
befriedigt oder wiederhergestellt werden, daß dies Böse, daß das böse
Wollen des Menschen durch die Strafe getroffen, und wenn es möglich
ist, aufgehoben wird.
Doch es scheint, wir haben hier noch eine Möglichkeit außer Acht
gelassen. Noch in anderer, als der eben bezeichneten Weise kann die
"Strafe" sittliche Bedeutung haben: Sie wendet sich nicht gegen das
böse Wollen in dem "Gestraften", sondern gegen das Böse oder
Nichtseinsollende in der sonstigen Welt. Sie schreckt ab oder sie
ermöglicht die Verwirklichung eines höheren, über die einzelne
Persönlichkeit hinausgehenden sittlichen Zwecks.
Zunächst nun verdient auch diese "Strafe" den Namen Strafe nicht
mehr.--Sollte die Schuld- und Straftheorie dennoch diesen Strafbegriff
im Auge haben? Wer sind dann die Abgeschreckten? Wir, die
Zuschauer? Werden wir bei manchen tragischen Helden nicht vielmehr
wünschen, es ihnen an sittlicher Stärke und edler Leidenschaft
gleichthun zu können? Oder wenn wir von dem abgeschreckt werden,
was an ihrem Thun unvollkommen ist, werden wir dann nicht auch vor
dem, was daran edel ist, zurückschrecken müssen, da doch ihr Thun als
Ganzes die "Strafe" zur Folge hat?--Und welches sind die "höheren
sittlichen Zwecke", deren Verwirklichung durch die Bestrafung der
Helden ermöglicht wird?
Vergessen wir aber bei solchen Fragen eines nicht. Von der erhebenden
Wirkung der Tragödie ist hier die Rede. Soweit die Strafe als Mittel der
Abschreckung oder der Verwirklichung höherer sittlicher Zwecke an
dieser Wirkung teil haben soll, muß beides, die Abschreckung und die
Verwirklichung höherer Zwecke, in der Tragödie uns entgegentreten.
Wo aber findet dergleichen statt? RICHARDs III. Fall führt eine
glücklichere Zeit herbei. Aber gerade diese Wendung der Dinge gehört
nicht mehr zur Tragödie als solcher. Und wie steht es in der Hinsicht
mit den oben erwähnten Tragödien?
So kann uns jener "höhere", weil "strengere" moralische Standpunkt
von unserem Widerspruche gegen die Schuldtheorie oder die Theorie
der poetischen Gerechtigkeit nicht bekehren.
DIE "SITTLICHE WELTORDNUNG".
Es giebt aber einen anderen, nicht nur strengeren, sondern
umfassenderen oder weitsichtigeren und darum "höheren" Standpunkt,
der jene Theorie zu rechtfertigen scheinen könnte. Suchen wir uns auch
diesen Standpunkt verständlich zu machen.
Von Natur, so etwa könnte der Vertreter dieses Standpunktes sich
vernehmen lassen, sind wir geneigt, unser sittliches Urteil zunächst auf
das Einzelne und das Individuum zu beziehen. Indem wir uns als
Persönlichkeit fühlen und uns das Recht unserer Persönlichkeit
zuschreiben, können wir nicht umhin, auch anderen das Recht ihrer
Persönlichkeit zuzuerkennen. Das Individuum, meinen wir, dürfe sich
als solches bethätigen und sein Wollen, sofern es ein an sich gutes sei,
behaupten, auch gegen die Schranken, die ihm die objektive Welt
entgegenstellt, und in leidenschaftlichem Kampfe gegen dieselben.
Nicht ihm, sondern der unvollkommenen Wirklichkeit falle die Schuld
zu, wenn das Individuum mit seinem guten Wollen in diesem Kampfe
untergehe.
Aber dieser Standpunkt, so meint man, bestehe nicht vor einer höheren
Einsicht. Über dem Einzelnen stehe das Allgemeine, über dem
Individuum der Zusammenhang der Welt, über dem individuellen
Wollen die objektive Ordnung der Dinge. Nicht im Individuum,
sondern im Ganzen, der Welt und ihren Ordnungen verwirkliche sich
der "Weltgeist", die "Idee", das "Absolute". Und nur die Idee oder das
Absolute habe ein absolutes Recht. Wer sich in "einseitigem" Wollen,
in einseitiger Betonung seiner Persönlichkeit gegen die Ordnung der
Dinge auflehne, lehne sich gegen die Idee auf und verfalle in Schuld.
Und diese Schuld müsse sich rächen. Die Idee negire, die Wirklichkeit
verschlinge den Schuldigen, und von Rechtswegen. Wir mögen seine
Vernichtung menschlich beklagen, aber mit der Klage verbinde sich
das erhabene und erhebende Bewußtsein von der siegenden Allgewalt
der Idee. In diesem Bewußtsein, dem ehrfurchtsvollen Schauer vor der
Idee, bestehe der Genuß der Tragödie.
Viel Wahres ohne Zweifel liegt in solchen Worten oder kann in ihnen
liegen. Viel Unwahrheit aber, viel Mißverständnis kann sich dahinter
verbergen. Und mit je größerem Pathos die Worte auftreten, um so
größer ist die Gefahr des Mißverstandes.--Andererseits fragt es sich,
wie viel von der Wahrheit, die in ihnen liegt, auf die Tragödie
Anwendung findet.
Was meint man denn mit jener "objektiven Ordnung" der Dinge, deren
Verletzung Sünde sei? Ist es die Ordnung der Dinge, so wie sie ist, der
thatsächliche Bestand der Welt? Diese Ordnung der Dinge bekämpft
und verletzt jedes menschliche Wollen und Handeln, nicht nur das des
tragischen Helden. Jedes Wollen geht auf Veränderung des
Weltbestandes. Was wirklich ist, das brauchen wir nicht erst zu wollen
und wollend herbeizuführen. Die Gesetze der Wirklichkeit freilich, die
hebt unser Wollen nicht auf; die aber tastet auch das Wollen des
tragischen Helden nicht an.--Wäre die objektive Ordnung so gemeint,
und die Verletzung dieser objektiven Ordnung Sünde, so wäre jedes
Wollen sündhaft und strafwürdig. Das Dasein des Individuums wäre
das Nichtseinsollende. Die "absolute" Moral schlüge in die Moral der
Selbstvernichtung um.
Indessen dies ist nicht die Meinung der Theorie, oder braucht sie nicht
zu sein. Nicht jedes
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