Bruderliebe, die heiligste Verpflichtung, die ihr diese Bruderliebe
auferlegt, festhält, trotz der Drohungen eines Tyrannen, angesichts der
Notwendigkeit elend dahinzusterben, kurz, hat ein Weib, das ebenso
handelt wie ANTIGONE, und aus ebensolcher Gesinnung, durch dies
Handeln und durch diese Gesinnung den Tod verdient, nicht irgend
einen, sondern den grausamen und schmachvollen, wie ihn
ANTIGONE erleidet? Ist sie durch unser natürliches Gefühl gerichtet,
als eine, die nicht verdient, weiterzuleben? Haben wir, wenn sie ihrem
schrecklichen Schicksal verfällt, das Bewußtsein, ihr sei recht
geschehen und weiter nichts, und ist es dieses Bewußtsein, ist es dies
befriedigte "Gerechtigkeitsgefühl", aus dem wir den erhabenen Genuß
schöpfen, den uns die Tragödie gewährt?
Man rede nicht von einem höheren sittlichen Standpunkte gegenüber
dem Kunstwerk. Reiner allerdings ist der Standpunkt, wir stehen
nirgends auf einem reineren sittlichen Standpunkt als gegenüber dem
tragischen Kunstwerk. Aber er ist reiner, nicht weil er dem natürlichen
Gefühl Hohn spricht, sondern sofern er eben dies Gefühl unbeeinflußt
durch Rücksichten, wie sie der Zusammenhang der Wirklichkeit mit
sich bringt, zur Geltung kommen läßt.
SCHULD UND "STRAFE".
Doch urteilen wir nicht zu schnell. Sehen wir der Theorie etwas näher
ins Gesicht. Worin denn soll jener "höhere" Standpunkt bestehen? Ist er
ein höherer, weil er ein strengerer ist, der mißt nicht nach
menschlichem Maßstabe, sondern nach dem Maßstabe sittlicher
Vollkommenheit? Von sittlicher Vollkommenheit allerdings bleibt ja
alle menschliche Tugend weit entfernt. Vielleicht sieht ein
vollkommenes Wesen, sieht die Gottheit die besten der Menschen so
weit von sich entfernt, daß das Gute, das an ihnen ist, ihr unendlich
klein erscheint. Besteht es darum für sie gar nicht mehr? Darf sie es
völlig für nichts achten?
Doch was reden wir? Sind denn wir die Gottheit? Können wir denn
einen anderen Maßstab haben als den menschlichen? Ist der Dichter
nicht Mensch und wendet sich an Menschen?
Lassen wir uns aber jenen höheren Standpunkt einen Augenblick
gefallen. Die besten der tragischen Helden seien trotz ihres guten
Wollens so nichtswürdig, als es von jenem höheren Standpunkt irgend
scheinen mag. Müssen sie darum vernichtet werden? Gewiß wird
einem absolut vollkommenen Willen jede Unvollkommenheit, jeder
Mangel, jedes Böse widerstreben. Er wird demgemäß das Böse überall
aufzuheben und zu vernichten streben. Aber heißt dies, er wird die
Menschen vernichten? Sind denn die Menschen die Unvollkommenheit,
der Mangel, das Böse? Sind sie das Nichtseinsollende, weil das
Nichtseinsollende ihnen anhaftet? So gewiß nur das, was am Menschen
böse ist, oder der Mensch, sofern er böse ist, dem vollkommenen
Willen widerspricht, so gewiß kann die Gegenwirkung dieses Willens
nur gegen dies Böse gerichtet sein, nicht gegen das Ganze des
Menschen. Der vollkommene Wille kann nicht seinen Zorn von dem
Bösen auf das ganze Wesen übertragen und so mit dem Bösen auch das,
sei es noch so geringe Gute, oder den Keim des Guten, der im
Menschen wohnt, zugleich vernichten wollen. Dies Gute muß er lieben
und zu erhalten streben, so gewiß er das Böse haßt und aufzuheben
strebt. Mögen wir vermöge eines natürlichen Irrtums unseres
Empfindens Menschen hassen, statt das Böse in ihnen zu hassen, dem
vollkommenen sittlichen Willen liegt solcher Irrtum fern.
Welche Bedeutung dürfen wir dann noch der Strafe beimessen?--Strafe
ist nicht unmittelbar Aufhebung oder Verneinung des Bösen. Sie ist
Verhängung eines Übels über die Person, störender oder vernichtender
Eingriff in den Bestand der Persönlichkeit, der diese oder jene Seite der
Persönlichkeit treffen kann. Dies hindert doch nicht, daß ihr ganzes
sittliches Wesen einzig in jener Reaktion des sittlichen Willens,--wenn
ein sittlich vollkommener Wille als der Strafende gedacht wird, in der
Reaktion dieses sittlich vollkommenen Willens--gegen das Böse
bestehen kann. Das Böse aber ist einzig im Innern der Persönlichkeit
als deren böser Wille. Darnach hat die Strafe ihre sittliche Bedeutung,
nicht sofern sie in die Persönlichkeit überhaupt störend und vernichtend
eingreift, sondern lediglich sofern dadurch der böse Wille getroffen,
gebrochen, vernichtet wird. Die Strafe verfehlt ihren sittlichen Zweck,
sie ist nicht Strafe, so sehr sie es nach der Absicht des Strafenden sein
mag, wenn nicht in dem Gestraften das Bewußtsein entsteht, daß er
gestraft und mit Recht gestraft sei, wenn ihm nicht in der Strafe die
Nichtigkeit seines bösen Wollens und die sittliche Übermacht des
Willens, der die Strafe verhängt, zum Bewußtsein kommt. Sie verdient
ihren Namen nur soweit dies der Fall ist.
Wie nun, so frage ich, steht es hiermit bei ANTIGONE, EMILIA
GALOTTI, MARIA STUART und so vielen anderen? Erkennen sie die
"Strafe", die ihnen angeblich zu teil wird, als solche an? Beugen sie
sich, wenn auch widerstrebend, vor der sittlichen Übermacht dessen,
der sie straft? Ist ihnen überhaupt die Macht, der sie unterliegen, eine
sittliche?--Das Gegenteil ist der Fall. Also ist ihre "Strafe" thatsächlich
keine Strafe. Die Wirkung in ihrem Innern, die allein der strafende
sittliche Wille--wenn ihnen ein solcher gegenübersteht--wollen kann,
bleibt unerreicht.--Damit haben auch wir die sittliche Befriedigung, die
uns die Strafe gewähren soll, nicht gewonnen. Denn auch unser
sittliches Bewußtsein,
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