Der Roman eines geborenen Verbrechers | Page 5

Antonino M.
Eines Tages begab er sich in das Haus seines Bruders,
und man weiß nicht aus welchem Grunde, genug, er bedrohte sie mit
einem Revolver, der Bruder kam dazu, und es gelang ihm das
Blutvergießen zu verhindern, aber Antonino brachte ihm eine
Bißwunde in die Hand bei, mit welcher er ihm den Revolver entriß. Es
erfolgte die Klage und trotz der heuchlerischen Verteidigung, der
demütigen Erklärungen und der wortreichen Beredsamkeit wurde
Antonino zu einem Monat Gefängnis verurteilt. Es würde dieses
Vorkommnisses nicht bedurft haben, um Antonino zu allen Frevelthaten
gegen seinen Bruder fähig zu machen, aber es diente ihm in der
Öffentlichkeit als Rechtfertigung für seine schon offen
ausgesprochenen Blut- und Rachegedanken.
Von diesem Augenblick ab war das Leben des armen Michele eine
fortwährende Angst und Aufregung; er traute sich nicht die Nase aus
dem Fenster zu stecken oder die Füße vor die Thür zu setzen, ohne die
Überzeugung zu haben, daß er von seinem Bruder getötet würde, der
ihm coram publico unaufhörlich nachstellte und den Augenblick nicht
erwarten konnte, wo er seinem Bruder den Rest geben würde.
Antonino erklärte öffentlich: Was mache ich mir aus dem Gefängnis!?
Ein halber Tag oder zwanzig Jahre sind mir einerlei; ich werde Mann
und Frau umbringen und dann bin ich zufrieden.
Er wußte, daß die Freunde seines Bruders ihn durch einen Pfiff
herauszurufen pflegten, und so versuchte er eines Abends, ihn auf
dieselbe Weise an das Fenster zu locken. Aber der Bruder merkte,
woher der Pfiff kam, und antwortete nicht. Ein anderes Mal lauerte er
ihm auf und trat endlich mit einer Flinte bewaffnet in das Haus seines
Bruders.
Öfter sah man ihn mit der Flinte am Fenster der Küche stehen und
warten, daß der Bruder sich am Fenster seiner gegenüber liegenden
Küche zeige. So fest stand bei ihm der Plan, daß er Frau und Kinder
fortschickte und allein blieb, um sich ganz der Überwachung seines
Bruders und der Ausführung des Mordes zu widmen. Und so trat denn
endlich am 29. September 1889 das ein, was =notwendig= eintreten

mußte.
Es war ein Sonntag, und Antonino M... pflegte alle Sonntag seine
Familie, die er leidenschaftlich liebte, in Tropea zu besuchen. Diesen
Sonntag blieb er in Parghelia; er wollte ein Ende machen. Er nahm
eine Doppelflinte, lud sie mit Schrot und mit einer Kugel und stellte
sich auf die Lauer. Aber der Bruder kam nicht, er war drüben in der
Küche mit seiner Frau und einer Tante und zerkleinerte Holz. Antonino
lief hinzu, um in die Küche zu eilen, aber das Fenster war sehr hoch.
Er nahm eine Leiter, stellte sie ans Fenster, stieg hinauf, sah den
Bruder bei der Arbeit, nahm die Flinte und schoß zweimal auf seinen
Bruder, den er am Kopfe verwundete.
Kaum war das Verbrechen verübt, so lud er von neuem und entfloh.
Um freien Durchgang zu haben, rief er: »Platz da, Platz da!« Niemand
hielt ihn an, denn alle kannten seinen blutdürstigen Charakter sowie
seine Geneigtheit zu Gewaltthätigkeiten, und wer ihn sah, floh entsetzt
beiseite.
Einen Monat lang hielt er sich verborgen, endlich am 27. Oktober 1889
wurde er in Monteleone auf offener Straße verhaftet, nicht ohne daß er
vorher einen Verteidigungsversuch gemacht hatte, indem er an den
Staatsanwalt ein Schreiben gerichtet hatte, in welchem er die That als
das Werk eines Zufalls darstellte, in der Hoffnung, daß diese plumpe
Verdrehung der Thatsache ihm irgendwie dienlich sein könnte.
Nachdem er dem Gefängnis zu Monteleone übergeben war, zweifelte
man, ob M... im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte sei, und er wurde
daher der Irrenanstalt zu Girifalco zur Beobachtung überwiesen. Bei
dieser Gelegenheit hatte Venturi ihn zu studieren, und das Resultat
dieser seiner Studien wird weiter unten abgedruckt.
Vor dem Gerichtshof zu Monteleone im April 1891 definierte Venturi
ihn als einen =geborenen Verbrecher=, einen Menschen, der sich der
Strafbarkeit seiner Handlungen nicht so voll bewußt ist, wie es das
Gesetz erfordert, um eine Verurteilung aussprechen zu können. Er
schloß sein Gutachten folgendermaßen:

»M... würde also nach dem geschriebenen Gesetz für das begangene
Verbrechen nicht verantwortlich oder nur halbverantwortlich sein, da
er es nicht bei vollem Bewußtsein und in voller Freiheit seines Willens
ausgeführt hat.
»Quid faciendum!
»Wenn er als unverantwortlich erkannt wird, wird man ihn dann in
Freiheit lassen?
»Er würde versuchen, seinen Bruder wiederum zu ermorden, und ohne
Zweifel mit größerer Ruhe, da er seine Straflosigkeit kennt und sich
daher für berechtigt hält, mit der ganzen menschlichen Gesellschaft
aufzuräumen. Soll man ihn in die Irrenstrafanstalt bringen, wie es das
Gesetz für diejenigen vorschreibt, welche in einem krankhaften Hang
zum Verbrechen leben, und denen die Gelegenheit genommen werden
soll, ein Verbrechen zu wiederholen? Er würde zeitlebens darin
verbleiben müssen, denn es ist nicht vorauszusehen, daß M... mit der
Zeit seine Natur ändert, noch giebt es Heilmittel, die das bewirken
können. Wie soll das Ziel erreicht werden, welches das Gesetz im Auge
hat, um einen sicheren Schutz
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