Der Roman eines geborenen Verbrechers | Page 4

Antonino M.
diese Zwietracht konnte in dem Temperament
des M... gefunden werden.
Bei der Strafkompagnie versuchte er eines Tages einen Lieutenant zu
ermorden, weil dieser ihn bestraft hatte. Er wartete, bis der
unglückliche Lieutenant Nachts die Ronde machte, und mit dem Dolch
in der Hand, den er sowohl als Gefangener wie als Soldat immer bei
sich zu tragen oder im Strohsack oder im Futter der Kleidung zu
verbergen pflegte, lauerte er Stunden lang; und nur dem Umstand, daß
der Lieutenant von einem Kameraden gewarnt wurde, ist es zu danken,
daß der Anschlag mißglückte.
Der Mangel an moralischem Gefühl zeigt sich auch darin, daß er eines
Tages einen Kameraden, einen Schreiber im Militärbureau, dazu
verführte, ihm eine Änderung in dem Register zu gestatten, indem er
das Datum seiner Aushebung um ein Jahr zurückschrieb, um auf diese
Weise ein Jahr früher vom Militär loszukommen.
Durch diese Fälschung gelang es ihm, ein Jahr früher verabschiedet zu
werden; auf der Heimreise bekam er Händel mit den
Eisenbahnbeamten und um ein Haar wäre es zur Schlägerei

gekommen.
Die Fälschung wurde entdeckt, und er wurde von der
Militärverwaltung reklamiert, darüber entrüstete er sich heftig,
bewaffnete sich wie ein richtiger Brigant und begab sich in die Wälder.
Aber er sah ein, daß er auf diese Weise doch nicht durchkommen
würde und stellte sich der Militärbehörde in Catanzaro, die ihn wieder
nach Venedig zur Strafkompagnie schickte. Durch eine günstige
Beurteilung des Thatbestandes wurde er von der Anklage der Desertion
freigesprochen.
Kaum wieder bei der Kompagnie, wurde er zu zwei Monaten Wasser
und Brot und zur Kettenstrafe verurteilt. Er hatte den Skorbut;
nachdem er geheilt war, kam er wieder in strengen Arrest bei Wasser
und Brot und so verbrachte er das ganze Jahr fast immer in Arrest und
in Ketten.
V.
Im September 1882 kehrte er zu seiner Familie zurück, nachdem er
vierzehn Jahre lang im Gefängnisse und in der Strafkompagnie
gewesen war.
Zuerst empfindet M... selbst, daß ihm Bruder und Schwägerin
freundlich entgegenkamen. Und in der That nahmen sie ihn liebevoll
auf, ließen ihn an ihrem Tische essen und gewährten ihm, was ihre
finanzielle Lage gestattete. Nichts in der Selbstbiographie deutet an,
woraus der Haß gegen den Bruder entsprungen sein kann, er häuft nur
Schmähungen und wüste Schimpfreden gegen ihn. Aber wenn man die
Antecedentien und den Charakter des Antonino M... in Erwägung zieht,
so begreift man, daß zwischen den Brüdern keine Eintracht herrschen
konnte. Antonino lebte im Hause seines Bruders in unhaltbarem
Zustande, er konnte nicht zeitlebens wie ein Sohn von seiner
Schwägerin zwei Soldi täglich für Tabak entgegen nehmen. Da er von
sich eine übertriebene Meinung hatte und den Bruder mißachtete und
ihn als Haupt der Familie haßte, so mußte Antonino notwendiger Weise
eines Tages das Bedürfnis fühlen, fortzuziehen und für sich allein zu
leben und mit der Familie des Bruders vollständig zu brechen. Er that

es, und um die Position zu befestigen, nahm er sich eine Frau in der
Person eines Mädchens aus Tropea, eines sanften, zärtlichen Wesens,
einer kleinen Madonna, die sich ihm zum Weibe gab, besiegt von seiner
Ueberredungskunst und von Mitleid mit seinem Unglück.
Neues Unheil hatte diese Verbindung im Gefolge.
Das knappe ererbte Vermögen konnte nicht ausreichen, außerdem hatte
er keinen Hang zur Arbeit, war liederlich, rauchte, trank und gefiel
sich darin, sich vor den andern beim Kaufen hervorzuthun. Sein Bruder
stand ihm immer als derjenige vor Augen, der den größeren Teil des
väterlichen Vermögens geerbt hatte, daher sein Haß, sein unbändiger
Neid, seine Rachgier gegen ihn. Er erzählt selbst einen weiteren Grund
und dieser bestand darin, daß seine beiden Tanten zu Gunsten des
Sohnes des Michele testiert und so Antonino des zu erwartenden
Erbteiles beraubt hatten.
So waren genug psychologische und thatsächliche Motive vorhanden,
um zu begreifen, in welcher Gemütsverfassung Antonino gegen seinen
Bruder war, und früher oder später mußte der angesammelte Haß zum
Ausbruch kommen. Es war eine Lawine, die sich losgelöst hatte, und
immer wachsend, dem Abgrund zurollte, die Hindernisse, die sich ihr
in den Weg stellten, zerstörend. Antonino, der sich mehr und mehr in
seinen Zorn verbiß, machte kein Hehl aus seinem Haß, er sprach
öffentlich davon und von seinen Rachegedanken, und schürte dadurch
noch mehr den Brand in seinem Innern; vielleicht dienten auch die
Ermahnungen der Vorsichtigen und die Vorhaltungen der Ruhigen
dazu, seine Lust am Schrecklichen und seine Neigung zur Rache noch
zu verstärken.
Sein argwöhnisches Temperament war eine natürliche Folge seiner
Eitelkeit. Der übermäßigen Anmaßung entsprach immer der Argwohn,
daß ihm von seiten der andern nicht mit der nötigen Achtung begegnet
werde und daher die fortwährende Tendenz, sich verfolgt zu glauben.
Daher auch die übertriebene falsche Auslegung der Worte, der
Absichten, der Thaten anderer, besonders der Personen, denen er
stärkere Aufmerksamkeit schenkte und von denen er für seinen Haß und
seine Drohungen Kränkungen, Beleidigungen, Verachtung und Unbill

zu empfangen glaubte. Zuerst mußte die Schwägerin den Ausbruch des
Sturmes spüren.
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