Der Nachsommer | Page 8

Adalbert Stifter
weiter streben zu können. Ich kaufte mir eine sehr große
Schiefertafel, um auf ihr meine Arbeiten ausführen zu können. So saß
ich nun in manchen Stunden, die zum Erlernen von Kenntnissen
bestimmt waren, an meinem Tische und rechnete. Ich ging den Gängen
der Männer nach, welche die Gestaltungen dieser Wissenschaft nach

und nach erfunden hatten und von diesen Gestaltungen zu immer
weiteren geführt worden waren. Ich setzte mir bestimmte Zeiträume
fest, in welchen ich vom Weitergehen abließ, um das bis dahin
Errungene wiederholen und meinem Gedächtnisse einprägen zu können,
ehe ich zu ferneren Teilen vorwärts schritt. Die Bücher, welche ich
nach und nach durchnehmen wollte, hatte ich in der Ordnung auf einem
Bücherbrett aufgestellt. Ich war nach einer verhältnismäßigen Zeit in
ziemlich schwierige Abteilungen des höheren Gebietes dieser
Wissenschaft vorgerückt.
Der Vater erlaubte mir endlich, zuweilen im Sommer eine Zeit
hindurch entfernt von den Eltern auf irgend einem Punkte des Landes
zu wohnen. Zum ersten Aufenthalte dieser Art wurde das Landhaus
eines Freundes meines Vaters nicht gar ferne von der Stadt erwählt. Ich
erhielt ein Zimmerchen in dem obersten Teile des Hauses, dessen
Fenster auf die nahen Weinberge und zwischen ihren Senkungen durch
auf die entfernten Gebirge gingen. Die Frau des Hauses gab mir in sehr
kurzen Zwischenzeiten immer erneuerte schneeweiße Fenstervorhänge.
Sehr oft kamen die Eltern heraus, besuchten mich und brachten den
Tag auf dem Lande zu. Sehr oft ging ich auch zu ihnen in die Stadt und
blieb manchmal sogar über Nacht in ihrem Hause.
Der zweite Aufenthalt im nächst darauf folgenden Sommer war viel
weiter von der Stadt entfernt in dem Hause eines Landmanns. Man hat
häufig in den Häusern unserer Landleute, in welchen alle Wohnstuben
und andere Räumlichkeiten ebenerdig sind, doch noch ein Geschoß
über diesen Räumlichkeiten, in welchem sich ein oder mehrere
Gemächer befinden. Unter diesen Gemächern ist auch die sogenannte
obere Stube. Häufig ist sie bloß das einzige Gemach des ersten
Geschosses. Die obere Stube ist gewissermaßen das Prunkzimmer. In
ihr stehen die schöneren Betten des Hauses, gewöhnlich zwei, in ihr
stehen die Schreine mit den schönen Kleidern, in ihr hängen die
Scheiben- und Jagdgewehre des Mannes, wenn er dergleichen hat, so
wie die Preise, die er im Schießen etwa schon gewonnen, in ihr sind die
schöneren Geschirre der Frau, besonders wenn sie Krüge aus Zinn oder
etwas aus Porzellan hat, und in ihr sind auch die besseren Bilder des
Hauses und sonstige Zierden, zum Beispiel ein schönes Jesuskindlein
aus Wachs, welches in weißem feinem Flaume liegt. In einer solchen
oberen Stube des Hauses eines Landmanns wohnte ich. Das Haus war

so weit von der Stadt entfernt, daß ich die Eltern nur ein einziges Mal
mit Benutzung des Postwagens besuchen konnte, sie aber gar nie zu
mir kamen.
Dieser Aufenthalt brachte Veränderungen in mir hervor. Weil ich mit
den Meinigen nicht zusammen kommen konnte, so lebte die Sehnsucht
nach Mitteilung viel stärker in mir, als wenn ich zu Hause gewesen
wäre und sie jeden Augenblick hätte befriedigen können. Ich schritt
also zu ausführlichen Briefen und Berichten. Ich hatte bisher immer aus
Büchern gelernt, deren ich mir bereits eine ziemliche Menge in meine
Bücherkästen von meinem Gelde gekauft hatte; aber ich hatte mich nie
geübt, etwas selber in größerem Zusammenhange zusammen zu stellen.
Jetzt mußte ich es tun, ich tat es gerne, und freute mich, nach und nach
die Gabe der Darstellung und Erzählung in mir wachsen zu fühlen. Ich
schritt zu immer zusammengesetzteren und geordneteren
Schilderungen.
Auch eine andere Veränderung trat ein.
Ich war schon als Knabe ein großer Freund der Wirklichkeit der Dinge
gewesen, wie sie sich so in der Schöpfung oder in dem geregelten
Gange des menschlichen Lebens darstellte. Dies war oft eine große
Unannehmlichkeit für meine Umgebung gewesen. Ich fragte
unaufhörlich um die Namen der Dinge, um ihr Herkommen und ihren
Gebrauch und konnte mich nicht beruhigen, wenn die Antwort eine
hinausschiebende war. Auch konnte ich es nicht leiden, wenn man
einen Gegenstand zu etwas Anderem machte, als er war. Besonders
kränkte es mich, wenn er, wie ich meinte, durch seine Veränderung
schlechter wurde. Es machte mir Kummer, als man einmal einen alten
Baum des Gartens fällte und ihn in lauter Klötze zerlegte. Die Klötze
waren nun kein Baum mehr, und da sie morsch waren, konnte man
keinen Schemel, keinen Tisch, kein Kreuz, kein Pferd daraus schnitzen.
Als ich einmal das offene Land kennen gelernt und Fichten und Tannen
auf den Bergen stehen gesehen hatte, taten mir jederzeit die Bretter leid,
aus denen etwas in unserem Hause verfertigt wurde, weil sie einmal
solche Fichten und Tannen gewesen waren. Ich fragte den Vater, wenn
wir durch die Stadt gingen, wer die große Kirche des heiligen Stephan
gebaut habe, warum sie nur einen Turm habe, warum dieser so spitzig
sei, warum die Kirche so schwarz sei, wem dieses oder jenes Haus
gehöre, warum es so
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