Der Nachsommer | Page 9

Adalbert Stifter
groß sei, weshalb sich an einem andern Hause

immer zwei Fenster neben einander befänden und in einem weiteren
Hause zwei steinerne Männer das Sims des Haustores tragen.
Der Vater beantwortete solche Fragen je nach seinem Wissen. Bei
einigen äußerte er nur Mutmaßungen, bei anderen sagte er, er wisse es
nicht. Wenn wir auf das Land kamen, wollte ich alle Gewächse und
Steine kennen und fragte um die Namen der Landleute und der Hunde.
Der Vater pflegte zu sagen, ich müßte einmal ein Beschreiber der
Dinge werden oder ein Künstler, welcher aus Stoffen Gegenstände
fertigt, an denen er so Anteil nimmt, oder wenigstens ein Gelehrter, der
die Merkmale und Beschaffenheiten der Sachen erforscht.
Diese Eigenschaft nun führte mich, da ich auf dem Lande wohnte, in
eine besondere Richtung. Ich legte die Mathematik weg und widmete
mich der Betrachtung meiner Umgebungen. Ich fing an, bei allen
Vorkommnissen des Hauses, in dem ich wohnte, zuzusehen. Ich lernte
nach und nach alle Werkzeuge und ihre Bestimmungen kennen. Ich
ging mit den Arbeitern auf die Felder, auf die Wiesen und in die
Wälder und arbeitete gelegentlich selber mit. Ich lernte in kurzer Zeit
auf diese Weise die Behandlung und Gewinnung aller
Bodenerzeugnisse des Landstriches, auf dem ich wohnte, kennen. Auch
ihre erste ländliche Verarbeitung zu Kunsterzeugnissen suchte ich in
Erfahrung zu bringen. Ich lernte die Bereitung des Weines aus Trauben
kennen, des Garnes und der Leinwand aus Flachs, der Butter und des
Käses aus der Milch, des Mehles und Brotes aus dem Getreide. Ich
merkte mir die Namen, womit die Landleute ihre Dinge benannten, und
lernte bald die Merkmale kennen, aus denen man die Güte oder den
geringeren Wert der Bodenerzeugnisse oder ihre nächsten
Umwandlungen beurteilen konnte. Selbst in Gespräche, wie man dieses
oder jenes auf eine vielleicht zweckmäßigere Weise hervorbringen
könnte, ließ ich mich ein, fand aber da einen hartnäckigen Widerstand.
Als ich diese Hervorbringung der ersten Erzeugnisse in jenem Striche
des Landes, in welchem ich mich aufhielt, kennen gelernt hatte, ging
ich zu den Gegenständen des Gewerbfleißes über. Nicht weit von
meiner Wohnung war ein weites flaches Tal, das von einem Wasser
durchströmt war, welches sich durch seine gleichbleibende
Reichhaltigkeit und dadurch, daß es im Winter nicht leicht zufror,
besonders zum Treiben von Werken eignete. In dem Tale waren daher
mehrere Fabriken zerstreut. Sie gehörten meistens zu ansehnlichen

Handelshäusern. Die Eigentümer lebten in der Stadt und besuchten
zuweilen ihre Werke, die von einem Verwalter oder Geschäftsleiter
versehen wurden.
Ich besuchte nach und nach alle diese Fabriken und unterrichtete mich
über die Erzeugnisse, welche da hervorgebracht wurden. Ich suchte den
Hergang kennen zu lernen, durch welchen der Stoff in die Fabrik
geliefert wurde, durch welchen er in die erste Umwandlung, von dieser
in die zweite und so durch alle Stufen geführt wurde, bis er als letztes
Erzeugnis der Fabrik hervorging. Ich lernte hier die Güte der
einlangenden Rohstoffe kennen und wurde auf die Merkmale
aufmerksam gemacht, aus denen auf eine vorzügliche Beschaffenheit
der endlich in der Fabrik fertig gewordenen Erzeugnisse geschlossen
werden konnte. Ich lernte auch die Mittel und Wege kennen, durch
welche die Umwandlungen, die die Stoffe nach und nach zu erleiden
hatten, bewirkt wurden.
Die Maschinen, welche hiezu größtenteils verwendet wurden, waren
mir durch meine bereits erworbenen Vorkenntnisse in ihren
allgemeinen Einrichtungen schon bekannt. Es war mir daher nicht
schwer, ihre besonderen Wirkungen zu den einzelnen Zwecken, die
hier erreicht werden sollten, einsehen zu lernen. Ich ging durch die
Gefälligkeit der dabei Angestellten alle Teile durch, bis ich das Ganze
so vor mir hatte und zusammen begreifen konnte, als hätte ich es als
Zeichnung auf dem Papier liegen, wie ich ja bisher alle Einrichtungen
solcher Art nur aus Zeichnungen kennen zu lernen Gelegenheit hatte.
In späterer Zeit begann ich, die Naturgeschichte zu betreiben. Ich fing
bei der Pflanzenkunde an. Ich suchte zuerst zu ergründen, welche
Pflanzen sich in der Gegend befänden, in welcher ich mich aufhielt. Zu
diesem Zwecke ging ich nach allen Richtungen aus und bestrebte mich,
die Standorte und die Lebensweise der verschiedenen Gewächse
kennen zu lernen und alle Gattungen zu sammeln. Welche ich mit mir
tragen konnte und welche nur einiger Maßen aufzubewahren waren,
nahm ich mit in meine Wohnung. Von solchen, die ich nicht von dem
Orte bringen konnte, wozu besonders die Bäume gehörten, machte ich
mir Beschreibungen, welche ich zu der Sammlung einlegte. Bei diesen
Beschreibungen, die ich immer nach allen sich mir darbietenden
Eigenschaften der Pflanzen machte, zeigte sich mir die Erfahrung, daß
nach meiner Beschreibung andere Pflanzen in eine Gruppe zusammen

gehörten, als welche von den Pflanzenkundigen als zusammengehörig
aufgeführt wurden. Ich bemerkte, daß von den Pflanzenlehrern die
Einteilungen der Pflanzen nur nach einem oder einigen Merkmalen,
zum Beispiele nach den Samenblättern oder nach den Blütenteilen,
gemacht wurden, und daß da Pflanzen in einer Gruppe beisammen
stehen, welche in ihrer ganzen Gestalt und in ihren meisten
Eigenschaften sehr
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