auf der Gasse Gehenden klangen
spärlicher. Rahels Fenster blieb geschlossen. Will sie mir nicht einmal
Antwort geben? dachte er zornig, und er fühlte wieder jenen bleiernen
Überdruß in sich aufsteigen, der ihn solange beherrscht hatte. Aber jetzt
knarrte hinter ihm die Türe seines Zimmers. Er wandte sich langsam
um. Die Lampe war nicht angezündet, es flackerte nur eine Kerze auf
dem Tisch. In dem entstehenden Luftzug wehte der Vorhang wie eine
Fahne weit ins Zimmer hinein. Rahel schritt zögernd über die Schwelle,
machte leise die Türe zu, blieb dann stehen und drückte die Hände
gegen die Brust. Sie heftete die Blicke auf den Boden, und ihr Gesicht
hatte einen Ausdruck von Tiefsinn und Verlorenheit.
Sylvester ging auf sie zu und schloß sie in seine Arme. Sie wagte ihn
anzusehen; ihre Augen schienen zu flehen: sag' mir, wer du bist. Er
spürte den warmen Körper unter dem Gewand, er spürte das zärtlich
ungestüme Blut, doch in seine Freude mischte sich eine wunderliche
Trauer, und je länger er sie hielt, je kühler wurde ihm ums Herz.
Nachdenklich strich er mit der Hand über Rahels Haar, und ebenso
nachdenklich küßte er die Schaudernde auf die Stirn und auf die Augen;
plötzlich lauschten beide erschrocken. Vom Flur herein drangen
streitende Stimmen. Gleich darauf wurde die Türe mit Heftigkeit
geöffnet und ein alter Mann mit einem weißen Bart trat ein.
Bei seinem Anblick duckte sich Rahel; ihr Kopf fiel wie gebrochen
gegen die Brust. Sylvester wollte den Eindringling zur Rede stellen,
aber er begegnete einem Blick voll solcher Raserei, daß ihm der Mut
verging und er sich nur mit einer fragenden Miene an seinen Diener
Adam Hund wandte, der mit philosophischem Ernst auf der Schwelle
stand und einem Wachtposten glich, dem man zu seiner Verwunderung
das Gewehr weggenommen hat. Eine Magd und ein Kellner hatten sich
in den stattgefundenen Wortwechsel gemengt und spähten neugierig ins
Zimmer.
Eine Weile betrachtete der alte Mann stumm seine Tochter. Die
unzähligen Falten in seinem Gesicht sahen aus wie Striche auf einem
radierten Blatt; die weißen Haarringeln, die von der Stirn herabfielen,
waren naß vom Regen. Auf einmal packte er das Mädchen bei den
Haaren und warf es nieder; Sylvester und Adam sprangen herzu, aber
er rollte die Augen wie ein Wahnsinniger und stieß mit den Füßen nach
ihnen. Mit einer Kraft, die ihm niemand zugetraut hätte, schleifte er
Rahel an den Haaren zum Zimmer hinaus, über den Flur, über die
Stiege hinunter, so daß man die Schuhe der Unglücklichen auf den
Stufen klappern hörte, schleifte sie drunten an einigen Leuten vorbei,
die versteinert zuschauten, weil das Entsetzliche des Vorgangs jeden
Entschluß lähmte, schleifte sie über den Gang bis zum Tor und dann
noch über die Straße in sein Haus. Während alles dies mit ihr geschah,
hatte das Mädchen nicht einen Laut hören lassen.
Zu spät gewann Sylvester Besinnung und Überlegung zurück. Als er
die Treppe hinuntergerannt und vor dem Haus des Händlers angelangt
war, hatten sich ungeachtet des strömenden Regens eine Menge
Menschen in der engen Gasse versammelt. Sylvester rüttelte an der Tür,
sie war verriegelt. In seiner Erregung forderte er die Umstehenden auf,
daß sie ihm helfen möchten, das Schloß zu sprengen, doch keiner folgte
seinem Geheiß, spöttisch und finster sahen sie ihn an. Da kehrte er um,
und als er über die Stiege hinaufging, fand er einen von Rahels
Schuhen dort liegen. Er hob ihn auf und nahm ihn mit. In der Wohnung
des Juden blieb es den ganzen Abend über dunkel. Niemals erfuhr
Sylvester, auf welche Weise der Alte von Rahels Flucht unterrichtet
worden war, ob sie ihm selbst einen Hinweis gegeben, ob ihr Gefühl
und Trieb sie verraten, ob er die Gefahr mit dem Instinkt der
Argwöhnischen gewittert und sie heimlich beobachtet hatte, ehe sie
selbst noch gewußt, was in ihrem Innern vorging.
Sylvester benutzte einen Teil der Nacht dazu, um seine Koffer zu
packen. Am andern Morgen reiste er ab.
* * * * *
Als Agathe in der Stadt ankam, blieb ihr die Beschämung nicht erspart,
von den Hotelbediensteten erfahren zu müssen, daß Herr von Erfft
abgereist sei. Kaum brachte sie es über sich, zu fragen, ob er nicht eine
Adresse hinterlassen habe. Die Antwort lautete verneinend.
Dann stand sie auf der Straße und überlegte. »Zum Baron de Vriendts,«
befahl sie dem Kutscher.
Der Domherr Baron de Vriendts wohnte in einem alten palastähnlichen
Hause am Residenzplatz. Sie wurde über eine breite, mit roten
Teppichen belegte Stiege in einen Saal geführt und übergab dem
livrierten Diener ihre Karte. Aus einem entfernten Raum tönte das Spiel
einer Orgel. De Vriendts galt für einen großen Liebhaber der Musik,
und man erzählte sich, daß eine junge Verwandte bei ihm lebe, manche
behaupteten auch, daß es eine Fremde sei, ein elternloses adeliges
Mädchen, das eine Virtuosin auf der Orgel war.
In früheren Jahren war de Vriendts häufiger Gast bei Sylvester
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