und
Agathe gewesen; jetzt litt er dermaßen am Podagra, daß er nicht mehr
sein Zimmer, geschweige denn die Stadt verlassen konnte. Das
körperliche Übel hatte auch seiner Umgänglichkeit Abbruch getan; so
oft Sylvester in der Stadt gewesen, hatte er gegen Agathe Klagen
geführt über die zunehmende Verdüsterung des einst so lebensfrohen
Mannes.
Der Lakai kam zurück und sagte, Hochwürden lasse bitten. Sie ging
durch ein Zimmer, in welchem Kupferstiche hingen und alte
geschriebene Folianten auf schmalen Pulten lagen, und durch ein
zweites, in dem sich eine Münzensammlung befand. Dann mußte sie
über einen Korridor schreiten, der Diener öffnete die Tür, und eine
überheizte Luft schlug ihr entgegen. Bei ihrem Eintritt hörte das
Orgelspiel auf, sie vernahm einen raschen, leichten Schritt hinter dem
Instrument und sah durch den Spalt einer sich schließenden Tapetentür
ein weißes Gewand. De Vriendts lag in einem Polstersessel; seine Füße
staken in dicken Verbänden. Auf einem Tischchen vor ihm war ein
Schachbrett aufgestellt, und die majestätisch hinrollende Fuge schien
ihn nicht daran gehindert zu haben, die Position auf dem Brett zu
studieren. Neben ihm in einem Käfig mit versilberten Stäben hockte ein
grüner Papagei unbeweglich wie aus Stein; zwischen dem Kamin und
der Türe hingen sechs venezianische Marionetten, deren bunte Kleider
und wilde Gesichter etwas Gespenstisches hatten. Agathe erschrak bei
dem Anblick de Vriendts. Sein Gesicht war eingefallen und aschfahl;
die furchtbare Häßlichkeit der Züge wurde nur durch den Ausdruck des
Leidens gemildert. Die Entfleischtheit des Kopfes bot einen schaurigen
Gegensatz zu dem dicken und aufgequollenen Körper, aus dem hart
und laut ein gepreßter Atem brach. Agathe mußte sich Gewalt antun,
um ihr Entsetzen, in das sich Abscheu mischte, zu verbergen. De
Vriendts lud sie mit einer mühsam liebenswürdigen Bewegung zum
Sitzen ein. »Wie jung Sie sind, wie schlank,« sagte er mit einer hohlen,
gellenden, angestrengten Stimme, und etwas wie Neid und Haß war in
seinen höchst unruhigen Augen.
Stockend brachte Agathe ihr Anliegen vor und fragte, ob de Vriendts
nicht wisse, wohin sich Sylvester gewandt habe. De Vriendts zog die
Brauen hinauf und erwiderte, er wisse nichts von Sylvester, der seit vier
Tagen nicht mehr bei ihm gewesen sei. Er heftete einen mißtrauischen
Blick auf Agathe und fragte ein wenig lebhafter: »Ja, ihr lieben Leute,
wart ihr denn nicht glücklich miteinander?«
»Ich war der Meinung, daß wir glücklich seien,« antwortete Agathe
leise, »aber für das Glück bin ich vielleicht doch nicht mehr jung genug.
Mit siebenunddreißig Jahren muß eine Frau verzichten lernen, scheint
mir.«
De Vriendts legte den Kopf zurück und mit gleichgültiger Miene
schloß er die Augen.
»An wen könnte ich mich nur wenden?« fuhr Agathe ebenso leise fort.
»Ich will ja alles hinnehmen, ich will ja warten, aber einen Grund will
ich wissen.«
De Vriendts hob jäh den Kopf und sah böse aus. »Wenn Sie den Weg
nicht scheuen und übles Gerede nicht fürchten, dann erkundigen Sie
sich doch bei Ursanner,« stieß er fast schadenfroh hervor.
»Hat er denn mit Ursanner verkehrt?« fragte Agathe verwundert.
»Nichts natürlicher, als daß einer mit dem Teufel anbindet, wenn er von
Gott verlassen ist,« versetzte de Vriendts höhnisch.
Agathe versuchte einzulenken. »Sylvester war in früheren Jahren sehr
befreundet mit Achim Ursanner,« sagte sie schüchtern.
»Das mag ja sein, jeder Verbrecher war einmal unschuldig, Ursanner
wahrscheinlich auch. Und damit ich's Ihnen nur offen gestehe: als man
mir hinterbrachte, daß Sylvester mit diesem Menschen
zusammenkommt, habe ich ihn gebeten, mein Haus zu meiden.«
Ein Frösteln lief Agathe über den Rücken.
Das war der jahrtausendalte, unversöhnliche Geist der Kirche, der
ihrem Herzen fremd blieb. Sie beschloß, zu Ursanner zu gehen.
Sie schien zu vergessen wo sie war. Vor den Fenstern lag ein dicker
Nebel, der das Zimmer mehr und mehr verdunkelte. Die Schachfiguren
verloren ihre Farbe und sahen aus wie eine Schar von Gnomen. Es war
ein wunderschönes Elfenbeinspiel; die Türme hatten goldene Fähnchen
auf ihren Basteien.
Unten auf der Straße zogen Soldaten mit dumpfem Gleichschritt
vorüber. De Vriendts hatte Agathes Schweigen geschont, weil er ihr
Zeit geben wollte, sich zu sammeln. Nun, da er seiner Christen- und
Priesterpflicht genügt zu haben glaubte, veränderte sich sein Wesen
völlig. »Sie leben doch, Frau Agathe, Sie leben,« sagte er, und sein
Genießermund, der alle Leckerbissen des Daseins gekostet hatte,
wölbte sich gierig-schlaff, »ihr Lebenden wißt nicht, was das heißt. Ich,
sehen Sie, ich habe nur noch einen Wunsch, ich möchte noch einmal
singen hören. Nicht von einem Mann, Männer dürften eigentlich nicht
singen. Auch nicht von einer Frau, Frauen sind schon zu erfahren, das
himmlische Instrument in ihrer Kehle ist verstimmt. Was ich meine, ist
der Gesang vor den Toren des Lebens, der von Sünde und Tod nichts
weiß, der die Wollust heiligt und das Blut süßer macht. Wenn ich das
noch einmal hören kann, will ich meine letzte Flasche Bocksbeutel
entkorken, den ältesten, der so jung und sanft wird mit der Zeit und will
ihn
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