Der Mann von vierzig Jahren | Page 7

Jakob Wasserman
war ihr verboten mit den Menschen zu reden. Wenn es
dunkel wurde, sperrte der Vater den Laden zu, schleppte seine
Geldtruhe über die drei Stiegen hinauf, und dann ging er zum
Gottesdienst. Seine Furcht vor den Menschen grenzte an Wahnsinn.
Zitternd lag er in seinem Bett, wenn des nachts die Trunkenbolde auf
der Straße lärmten, und stets verzerrte sich angstvoll sein Gesicht,
wenn der Bäcker am Morgen die Hausglocke zog. Er bewachte jeden
Blick und Atemzug der Tochter; als sie einmal einem Vorübergehenden,
der sie um den Weg gefragt, Auskunft erteilt hatte, kauerte er bei ihrer
Rückkehr in den Laden in seinem Polsterstuhl und heulte dumpf in sich
hinein, so daß sie mit Beteuerungen und ihren eigenen Tränen seinen
Kummer stillen mußte. Ohne seine Begleitung durfte sie nicht über die
Straße gehen, und er geriet schon in Unruhe, wenn sie die Augen
aufschlug. So war ihr die Welt zum verbotenen Fest geworden, und
wenn es eine Ungeduld gibt, die Ketten sprengen und Kerkermauern
stürzen kann, die ihre war von solcher Art.
Die abendliche Fensterstunde war schon Erlösung; das Beisammensein
mit der Straße als Abgrund dazwischen reizte Sylvester zu verwegenen
Plänen; Rahel ließ sich genügen, bis sie die schürenden Worte des
Freundes besser begriff. Ihr war ja das Wort noch neu; es mußte
keimen, vom Mund zum Ohr konnte es noch nicht Beute der Sinne
werden, aber von der Nacht zum Morgen schlug es Wurzeln, und dann
kam sie erglüht wieder. Sie war ohne die Gabe der Verstellung; ihre

Freude, ihre Hoffnung, ihr Erstaunen, alles prägte sich in frische Münze
des Ausdrucks um; wenn er ihr Blumen hinüberreichte, wurde sie
stumm und bleich vor Dank, und sogleich malte sich die Ratlosigkeit in
ihren Zügen, wie sie das Geschenk vor den Augen des Vaters
verbergen könne.
Einmal brachte er ihr rote Rosen; sie geriet außer sich; sie hatte nicht
gewußt, daß man im November Rosen haben könne, und sie schaute
ihn an wie einen Zauberer. Mit einem fast verstörten Entzücken fragte
sie wieder, wohin sie damit solle; Sylvester sagte, sie möge sie unter
das Kopfkissen ihres Bettes legen, doch eine, bat er, möge sie an ihrer
Brust bewahren. Sie nickte, und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht;
da verlangte er, daß sie es vor seinen Augen tun solle, aber sie fragte
verwundert, weshalb er dies wünsche. Er antwortete nur, indem er seine
Bitte dringlicher wiederholte. Rahel schüttelte betrübt den Kopf. Nun
stellte sich Sylvester verletzt, und sie, mit erstickter Stimme, beschwor
ihn, von solcher Forderung abzulassen. Er entgegnete kalt, ob sie an
ihrer Schönheit zweifle, er selbst müsse zweifeln, weil sie sich so ziere,
und sogleich machte er Anstalten sich vom Fenster zu entfernen. Als
sie sah wie ernst es ihm schien, war sie bereit, ihm zu willfahren, und
obwohl ihr anzumerken war, wie sie sich vergebens mühte, den Sinn
seines Willens zu ergründen, öffnete sie ihr Gewand und steckte die
erblühteste unter den Rosen zwischen das Hemd und den Körper.
Sylvester gewahrte die weiße Haut; dunkel bewegt faltete er die Hände
gegen Rahel. Endlich verstand sie ihn. Wie ein Licht strahlte es aus
ihren Augen, in dieser Sekunde erwachte das Weib in ihr. Es drängte
sie, seine Hinneigung, von der sie Gewißheit zu haben glaubte, zu
belohnen und ihm durch eine Tat zu beweisen, daß sie sie verdiene; da
streifte sie mit einer keuschen Lässigkeit Kleid und Hemd völlig von
den Schultern und der Büste herunter und stand vor ihm wie eine
Herme aus Opal. Es sah aus, als ob der Lampenschein ihren Leib
durchglühe, und die schöne Rose, deren Stengel noch innen hinter dem
Gürtel festgehalten war, glich zwischen den weißen Brüsten einem
Wundmal. Ein süß bescheidener Triumph lag in ihrer Haltung, und
während Sylvester sie regungslos anschaute, grüßte sie ihn mit einem
fast mütterlichen Neigen des Hauptes, dann schloß sie das Fenster und

zog die Gardine zu.
Es wird Zeit, dies Gespinst zu Ende zu spinnen, sagte sich Sylvester in
einer angenehmen Trunkenheit; es soll mich nicht fesseln, es soll mich
nur beschäftigen. Am andern Abend warf er ihr ein Briefchen hinüber,
dessen sorgsam berechnete Leidenschaftlichkeit Rahels Herz
entflammte. »Komm zu mir,« hatte er geschrieben, »komm, wenn es
Nacht ist, komm zu einem Durstigen, du selbst Verschmachtete. Laß
mich nicht unwürdig um dich betteln, Glück ist ein schnellbeleidigter
Gast, nur einmal wirft es dir den goldnen Schlüssel auf den Weg. Keine
Reue ist brennender als die um das Versäumnis. Das Schicksal prüft
dich, sei nicht sparsam mit dir, sonst rächt es sich durch einen Geiz, der
dich für immer zu fruchtloser Sehnsucht verdammt. Komm, ich warte.
Nenn' am Tor meinen Namen, frag' nach meinem Diener, er soll dich
über die Treppen geleiten.«
Den Abend darauf stand er wieder am offenen Fenster. Ein kalter
Regen fiel. Vom Dom schlug es sieben, es schlug viertel und halb acht,
und die dumpfen Schritte der
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