Der Mann von vierzig Jahren | Page 6

Jakob Wasserman
einer jeden Frau waren geheimnisvoll; er liebte ihre Augen
bis zum Schmerz; jedes Auge war ihm eine unerforschte Welt; dies war
das Göttliche, das Geisterhafte; aber das Sinnliche, das Nahe waren
ihre Hände, sanfte, stolze Wesen für sich, sonderbar entkleidet, herrlich
gegliedert, unbewußt die gehütetsten Regungen verratend.
Sein Herz verschmachtete nach Zärtlichkeit, denn es war ihm klar
geworden, daß er die Leidenschaft nicht kannte. Er hatte geliebt, oft
und heftig; er hatte als junger Mann vieles Ungewöhnliche erlebt an
Begegnungen, an Hingabe, manche Stunde der Gnade und der Lust,
manche Wochen des Rausches, manche Nacht jener halb gern
gelittenen Leiden, die traurig und erfahren machen, aber ein Gefühl,
das alles bisherige Leben tötet und ein neues dafür schafft, das auflöst
und sammelt in einem Atem, von dem jeder zu wissen scheint und zu
welchem doch nur Gottes Lieblinge erwählt werden, das kannte er nicht.
Er wollte es kennen lernen. Und wenn er heimkehren mußte, ohne es
gefunden zu haben, dann wußte er wenigstens, daß es ein solches
Gefühl für ihn nicht gab.
* * * * *
Die junge Jüdin erschien immer zu einer bestimmten Stunde des
Abends am Fenster. Die Gasse, die Sylvester von ihr trennte, war nicht
zwei Armlängen breit. Man mußte nur vermeiden, sich über das Sims
zu beugen, dann konnte man von den tief unten gehenden Menschen
nicht gesehen werden. Nachbarn waren nicht zu fürchten; auf der einen
Seite endeten beide Häuser im Straßeneck, auf der andern erhob sich
ein Torturm.
Der von einer Lampe erhellte Raum, in den Sylvester täglich schauen
konnte, hatte grüne Tapeten; an der gegenüberliegenden Wand hing das
Bildnis eines alten Mannes, der einen goldnen Becher in der Hand trug.
Sylvester hörte, wie drüben die Uhr tickte; auf ihrem geschweiften
Mahagonigehäuse stand ein alabasterner Adler mit ausgebreiteten
Flügeln.
Schon am ersten Abend hatte Sylvester das Mädchen beobachtet.
Schweren Herzens war er im dunklen Zimmer herumgegangen, zu

vergessen gewillt, daß er ein Haus auf dem Rücken schleppte und daß
ein Weib ihm folgte, unfühlbar fesselnd; da sah er wie in einem
Panorama durch die beiden geöffneten Fenster beider Häuser die an
den Tisch hingelehnte Gestalt; eine Hand, die den Kopf stützte, lag im
schwarzen Haar vergraben, das Gesicht hatte einen Ausdruck von
träumerischem Enthusiasmus, aber die feuchten Augen besaßen die
Glut einer Nonne, die sich mitten im Gebet an eine sündhafte Vision
verliert.
So sehen sie aus, dachte Sylvester, die Schläferinnen, wenn das
Seelchen zwischen Jubel und Qual seiner selbst inne wird. Ein Weib zu
belauschen, das sich allein wähnt, das heißt, der Natur ihr am meisten
bewachtes Geheimnis zu entreißen, dachte er weiter; wie nackt ist solch
ein Seelchen, wie menschenhaft! Bittet und lockt, wenn das Schicksal
schweigt, und zuckt und wimmert, wenn es spricht. Er war versucht, sie
anzurufen.
Eine leichte Unruhe in den Zügen des Mädchens belehrte ihn über die
Kraft, die der ungewußte Blick eines andern auszuüben vermag. Sie
erhob sich plötzlich und ging zum Fenster, um es zu schließen. Ihr
Körper war enttäuschend klein, in der Senkung der Schultern verriet
sich Zaghaftigkeit als eine gewohnte Last. Sylvester beugte sich über
die Brüstung, und das Mädchen stieß einen hauchenden Schrei aus; es
duckte den Kopf und starrte in das jäh emporgetauchte, unbestimmt
erhellte Gesicht des fremden Mannes. Aber er haschte förmlich nach
ihr, er hielt sie fest durch Blick und Willen. Er redete; er wußte, daß er
nicht laut sein durfte; in zwei Sätzen erriet er sie ganz, ihr Leben, ihre
Wünsche, ihre Träume, und sie, nicht ahnend, wie leicht dies sei,
umklammerte mit den Fingern den Fensterpfosten und staunte ihn groß
an. Die nie Umworbene braucht nur begehrt zu werden, und sie begehrt
selbst; sie gleicht dem Schlafwandler, der beim ersten Laut aus
Menschenmund sich gefangen gibt; ihre Liebe ist Vorrat, ihre
Hingebung der Fall einer reifen Frucht, ein Abenteuer verleiht ihr
Bestimmung.
Den Mut zu antworten fand sie noch nicht. Aber es folgten andere
Abende. Sie war immer zu dieser Stunde in der Wohnung allein. Sie

ging zum Fenster wie ein Hungriger zur Mahlzeit. Sie fragte nicht: wer
bist du da drüben? sie glaubte an den unerwartet Erschienenen
blindlings. Vielleicht hielt sie ihn für einen jungen Menschen, doch um
sie zu täuschen, hätte es der Dunkelheit kaum bedurft, sie sah nur,
wonach sie verlangte. Ihre Ausdrucksweise war der eines Kindes
ähnlich, ihr Vertrauen zur Welt war durch den Argwohn eines
tyrannischen Vaters nur um so schrankenloser geworden. Sie hieß
Rahel und sie war achtzehn Jahre alt. Ihr Vater war ein
Antiquitätenhändler, und so lange Rahel denken konnte, lebte er
einsam mit ihr in diesem schmalen, hohen und finstern Haus. Ihre
Mutter hatte sie nicht gekannt, sie wußte nichts von ihr, der Vater
sprach nie von ihr. Während des Tages mußte sie bei ihm drunten im
Laden bleiben; hinter dem Laden war eine kleine Küche, und dort
kochte sie. Es
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