und der Spiegel wurde ihm zum Zeugen der Zerstörung. Der
Anblick der Furchen auf seiner Stirn und der Unebenheiten seiner
Wangen verfinsterte seinen Geist, und oft, wenn er über den Vernichter
grübelte, der so tückisch unter der Epidermis wühlte, über dies
langsame Hinschwinden und Niederbrennen, erfaßte ihn eine quälende,
aber in ihrem innersten Kern beglückende Sehnsucht, die er anfangs
nicht zu betäuben versuchte.
Eines Nachmittags saß Agathe mit der kleinen Frau des Inspektors
zusammen. Sie schwatzten über Frauensachen, Sylvester hatte am
Tisch Platz genommen und las in einem Buch; bisweilen blickte er zu
den beiden hinüber und da bemerkte er, daß die kleine Inspektorin
ebensooft einen raschen, erkundenden Blick auf ihn warf. Er
beobachtete sie schärfer, und sie spürte es sofort, denn sie versteckte
die Füße unter dem Kleid, und Schultern und Arme zeigten jene
koketten halben Bewegungen, die zu gefallen berechnet sind. Es lag
darin etwas Belebendes für Sylvester. Die sinnliche Strömung, die
zwischen ihm und dem fremden Weib entstanden war, machte ihn
feurig und froh. Er erhob sich und ging an den Frauen vorüber, und er
tat es nur deshalb, damit er im Vorübergehen mit seinem Ärmel das
Gewand der Inspektorin streifen konnte; in der Sekunde, in der es
geschah, glaubte er sie zu besitzen; in derselben Sekunde wurde ihm
auch bewußt, daß er fort mußte, fort von Agathe und dem Kind, daß er
dadurch seinen Untergang vielleicht herbeiführen würde, daß aber sein
Bleiben diesen Untergang nicht verhüten könne. Er stellte sich dann
hinter Agathes Stuhl, Agathe schaute zu ihm empor, und sie lächelte
vergnügt, weil sie ihn lächeln sah. Aber sein Lächeln galt nicht ihr, es
galt der andern, die auch zu ihm aufblickte. Und obwohl ihm Agathes
Züge vertraut und angenehm vertraut waren, da ihre Art zu sprechen,
zu denken, zu lachen, zu weinen ihnen die ihm allein enträtselbaren
charakteristischen Formen verliehen hatte, obwohl ihr Antlitz ihm wie
ein Gefäß voll zarter und heiliger Erlebnisse war, die sein Dasein
verändert und verschönert hatten, hingen seine Gedanken und
Empfindungen doch an dem gewöhnlichen und leeren Gesicht der
Fremden, die nichts weiter als hübsch war, hübsch, jugendlich und
unbekannt.
Er hatte danach die Inspektorin weder gesprochen, noch hatte er das
flüchtige Spiel zum zweitenmal anzufangen versucht. Aber er hatte sich
selbst begriffen. Er sah ein Gleichnis für seine Not. Jemand will eine
Reise antreten; auf dem Weg zum Bahnhof begegnet ihm ein Freund,
der ihm die Reise dringend widerrät; die Gesellschaft des Freundes
entzückt ihn, sie verbringen Tage, Wochen, Jahre miteinander, endlich
aber schlägt dem Zurückgehaltenen das Gewissen; war es gleich kein
bestimmter Auftrag, der ihn einst zu der Reise veranlaßt, so war es
doch sein innerer Trieb; ihm ist, als sei er sich selber ungehorsam
gewesen, als habe er sich selbst betrogen; ihn peinigt der Gedanke an
die Schönheit der Landschaften, die er nicht gesehen hat, an die
Möglichkeiten und Aussichten, die ihm entgangen sind, und mag sein
gegenwärtiges Glück noch so groß sein, das Gefühl des
unwiederbringlichen Verlustes wird ihn nicht zur Ruhe kommen lassen.
Sylvester wollte noch einmal frei sein. Weiß ich denn, an welchem Tag
sich die Pforte hinter mir schließen wird? fragte er sich. Weiß ich denn,
was mich hinschleudern, kraftlos, wunschlos, müde machen wird? Ihm
tauchten Bilder auf von mannigfacher Lockung. Es riefen ihn Stimmen
von allen Seiten. Er wollte leben, ohne Ziel und ohne Maß leben. Nicht
der Luxus der Städte, nicht Feste und Geselligkeit zogen ihn hin; es
kam wie von einem Traum. Ergreifen und ergriffen werden waren
Worte, vor denen er wie vor einem Urwald stand. Wenn er an die
unendlichen Gestaltungen des Lebens dachte, überlief ihn ein Schauer,
den er seit seiner Jugend nicht mehr verspürt hatte. Er taumelte dahin
und suchte Platz. Die Vielzahl der Wege berückte seine Augen. Eine
wechselvolle Erwartung stürmte wie Brandung in ihm. Es mußten nicht
nur lächelnde Gesichter sein, auch Tränen zu sehen war er bereit.
Schon ahnte er, wie sein Herz verstrickt wurde; noch ist es nicht zu spät,
sagte er sich, noch ist der wunderbare Magnetismus in mir, den ich
verloren zu haben gefürchtet. Und darauf eben kam es an. Dies war zu
erproben. Seine Seele war erfüllt von einer Schar bunter Genien; wenn
er im Walde ging oder einsam lag und vor sich hinsann, gewahrte er
Frauen und Mädchen mit schönen Augen und schönen Haaren; sie
warteten auf ihn; jede war in einer stillbeschlossenen Bewegung; jede
beglückte ihn durch ihre eigentümliche Weise, zu sein. Aber auch die
Wirklichkeit hatte einen neuen Zauber für ihn gewonnen: eine, die am
Brunnen stand und Wasser schöpfte; eine, die am Fenster ihrer
Kammer saß und zum Mond emporschaute; eine, die hinterm Zaun auf
ihren Geliebten wartete; eine, die verschleiert in einem Wagen zur
Kirche fuhr; eine, die vor seinem Blick errötete und sich dann
niederbeugte, um ihr Schuhband zu knüpfen. Jede hatte ihr Geheimnis;
die Augen
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