Der Mann von vierzig Jahren | Page 4

Jakob Wasserman
* *
Agathe stammte aus einer angesehenen Adelsfamilie, die im
Nassauischen begütert war. Ihr Vater hatte lange Zeit in Frankreich
gelebt, hatte dann in Deutschland tätigen Anteil an der Revolution
genommen und war in den Märztagen durch einen unglücklichen Schuß
getötet worden. Sie war die jüngste unter sieben Schwestern, die man
wegen ihrer Schönheit die Plejaden nannte. Ihren Gatten hatte sie bei
einem Hofball in Darmstadt kennen gelernt, Sylvester stand damals im
achtundzwanzigsten Lebensjahr. Er hatte nicht die Absicht, zu heiraten.
Er hatte ein Vorurteil gegen die Ehe, das ihm berechtigt schien, weil es
durch vielfache Erfahrung und mancherlei Einblick in das Eheleben

anderer Menschen erzeugt und erhärtet worden war. Er wollte seine
Freiheit nicht verlieren; er hatte Angst davor, an ein Haus, an eine
Stube, an einen Tisch gefesselt zu werden; er wünschte nicht, seine
Selbstbestimmung einzubüßen; er trug kein Verlangen nach
Familienfrieden und ungestörter Idylle, er war zu sehr an die
Aufregungen des Ungefährs, an die Zufälle und Abenteuerlichkeiten
des Umherschweifens gewöhnt. Er hatte viel von der Welt gesehen,
aber doch nicht genug, die Lockrufe in ihm waren noch nicht
verstummt. Dies alles sagte er Agathe. Er sagte ihr, daß er nicht für sich
bürgen könne.
Allein Agathe wußte ihn zu überzeugen, daß eine gemeinschaftliche
Existenz mit ihr zu seinem Glück ausschlagen werde, und je länger er
sie kannte, je mehr war er geneigt, ihr zu glauben. Er nahm eine Art
von Tatkraft in ihr wahr, die er noch an keinem menschlichen Wesen
bemerkt hatte. Es war die Tatkraft gewisser Pflanzen, die aus zartesten
Anfängen zu einer unwiderstehlichen Gewalt emporwachsen, mit der
sie Abgründe überbrücken und Felsen zerreißen. Dieser nicht zu
beirrende Wille machte ihn zum Untertan Agathes, ohne daß er es
wußte. Er bewunderte sie, ohne es zu wissen. Sie konnte ihn einfach
rauben, denn der Widerstand, den er ihrer Liebe entgegensetzte, hatte
seine Quelle in einer sonderbaren Furcht vor ihr, Furcht vor ihrer
Entschlossenheit, vor ihrem Mut, ihrer naiven Leidenschaft und dem
stürmischen Tempo, in dem sich ihr Geist und ihr Herz bewegten,
lauter Dinge, denen er sich nicht gewachsen fühlte. Er war nicht stark
in Handlungen, nicht einmal in Überlegungen, nur seine Eindrücke
waren von großer Tiefe und Unvergeßlichkeit. Sie liebte ihn mit dem
ganzen Ungestüm ihrer Natur. Er ließ sich von ihr lieben, und an
diesem Punkt begann seine Schuld. Obwohl er ihre Liebe erwiderte,
gab er sie nicht freiwillig her, sondern er gewöhnte sich so daran, sein
Gefühl erobern zu lassen, daß er völlig passiv wurde und jeden Zoll zu
bezahlen versäumte. Sie verlebten glückliche und reine Tage, aber
Agathe bemerkte nicht, daß sie ihrem Mann bequem wurde. Sie schien
ihm zur Gefährtin auserlesen, ja er sah in ihr das Wunder einer
Gefährtin, aber mit der Zeit wurde ihm dies selbstverständlich. Sie ließ
ihm nichts zu erraten übrig, sie enthüllte sich in jedem Augenblick, und
in jedem Augenblick ohne Rückhalt und ohne Vorbehalt. Wäre sie

nicht so reich erschaffen worden, in seiner Nähe hätte sie bald
verarmen müssen, denn alles was in ihm schenken und bauen konnte,
wurde ihr gegenüber stumm und lustlos. Trotzdem war ihm ihre
Gesellschaft unentbehrlich, die Jahre gingen hin, die aufwachsende und
zum Menschen werdende Silvia kettete sie noch fester aneinander, bis
eines Tages eine Unruhe in Sylvester erwachte, über die er sich lange
keine Rechenschaft geben konnte.
An einem Morgen fing es an, als er in ihr Schlafzimmer trat. Agathe
saß vor dem Spiegel und frisierte sich. Dieses Schauspiel habe ich
schon viele tausendmal gesehen, zuckte es Sylvester durch den Kopf.
Agathe begann von Wirtschaftssorgen zu sprechen, und er hörte nicht
den Sinn ihrer Worte, sondern nur den Klang ihrer Stimme. Und irgend
etwas in dieser Stimme, sei es der bekannte Tonfall, sei es die bekannte
Folge der Worte, erbitterte ihn in einer höchst ungerechten und sein
eigenes Gefühl beleidigenden Weise. Er wartete, welche Bewegung sie
machen würde und riet im stillen, daß sie den Kopf an einer genau von
ihm bestimmten Stelle fassen und auf die linke Hand stützen würde. Es
geschah so, und seine Erbitterung verwandelte sich in Widerwillen. Er
sah ihre auf den Stühlen liegenden Kleider, die Schuhe, Bänder und
Wäschestücke, und jeder einzelne dieser Gegenstände vermehrte seinen
unheimlichen Haß. Die Decke ihres Bettes war zurückgeschlagen, und
der Geruch des Frauenkörpers, der dem Linnen zu entströmen schien,
erweckte keine Begierde oder Zärtlichkeit mehr in ihm.
Von jener Stunde an wuchsen Unlust und Unzufriedenheit beständig in
seinem Innern. Daß sie darunter litt, blieb ihm nicht verborgen, und er
freute sich dessen; ihm war, als müsse er Rache an ihr üben, ihm war,
als hätte er durch Agathe seine Jugend verloren, als wäre sie die Diebin
seiner Illusionen und seiner Hoffnungen. Die zehn Jahre, die er an ihrer
Seite verbracht, erschienen ihm wie ebenso viele Jahre der Verbannung
und der Kerkerhaft. Eine schreckliche Angst vor dem Altwerden packte
ihn,
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