Der Landprediger | Page 5

Jakob Michael Reinhold Lenz
du ihn
nicht neulich dort angetroffen?"
"Ach der Dorfpfarrer", versetzte der Abbé mitleidig. "Ja, ich erinnere
mich. Ist er Ihnen nicht gleichgültig, mein Herr?"
"Ich müßte der nichtswürdigste Stutzer sein, wenn er mir's wäre",
antwortete Johannes außer allen Sprüngen, "es ist mein leiblicher
Vater."
"So?" kreischte mein Abbé im höchsten Kammerton, und nickte wieder
auf seine Arbeit hin.
"Sie sehen also, mein Herr! daß Sie hier unrecht sind", sagte Luzilla,
"gehen Sie zum Schulhalter Hecht--der wird Ihnen näheren Bescheid

geben."
Johannes sah fest auf den Boden und fort.--Er kam zu seinem Vater.
--Schon eh' er ausreiste, hatte er so viele Theologie mitgenommen, daß
er sich zur Not hätte können examinieren lassen. Die vielseitige
Bekanntschaft mit der Welt, die er sich nunmehr erworben, verbunden
mit seinen andern Kenntnissen, erleichterten ihm die Mühe, ins
Predigtamt zu kommen. Sobald er sich das erstemal öffentlich hatte
hören lassen, freute sich jedermann, ein Werkzeug seiner Beförderung
zu werden. Er bekam eine mittelmäßig gute Stelle. Viele meiner Leser
werden stutzen und einen Roman zu lesen glauben, wenn sie finden,
daß es ihm, ungeachtet seiner Inorthodoxie, doch mit seiner
Beförderung geglückt sei. Er ließ es sich aber auch nur nicht einfallen,
sich aus dem Eide einen Gewissensskrupel zu machen, mit dem er sich
zu den symbolischen Büchern verband. Niemals war es sein Zweck
gewesen, den Bauren die Theologie als Wissenschaft vorzutragen; es
gingen sie also die Glaubenslehren der Kirche, so wenig als ihre
Zweifel an. Das Mystische der einen, so wie das Aufgeklärte der
andern geht weit über ihr Fassungsvermögen. Sehr wohl konnte er also
für seine Person zu gewissen festgesetzten Lehren schwören, ohne
welche keine äußerliche Kirche bestehen kann, und zu denen jeder den
Schlüssel in seinem Herzen hat. Denn, im Grunde, was sind Lehren
anders, als Vorstellungsarten, und welcher Eid kann diese binden,
welcher Eid mich zwingen, Licht zu sehen, wenn ich im dunklen
Zimmer stehe, oder umgekehrt? Genug, daß der Eid vorbauende
Formel ist, keine Sachen zu lehren, die auf das Leben und die
Handlungen der Zuhörer einen widerwärtigen Einfluß haben, als den
die wahre Religion auf sie haben soll. So sagte er also seinen Zuhörern
kein Wort, weder von der Ewigkeit der Höllenstrafen, noch von der
Vereinigung der beiden Naturen, noch von den Geheimnissen des
Abendmahls, bis sie selbst drauf kamen, und sich insgeheim bei ihm
Rats erholten, da er seinen Unterricht denn jedesmal nach der
besondern Beschaffenheit der Person, die ihn fragte, einrichtete. Aber
er lehrte sie ihre Pflichten gegen ihre Herrschaft, gegen ihre Kinder,
gegen sie selbst. Er wies ihnen, wie sie durch eine ordentliche
Haushaltung sich den Druck der Abgaben erleichtern könnten, deren
Notwendigkeit er ihnen deutlich machte. Er erzählte ihnen, wie es in

andern Ländern wäre, und machte ihnen ihren Zustand durch die
Vergleichung mit schlimmeren süßer. Er erzählte ihnen einzele
Beispiele von Hauswirten, die durch ihren Fleiß und Geschicklichkeit
sich emporgebracht, bewies ihnen, daß Arbeit und oft Mangel selbst
der Samen zu all unserm zeitlichen Glücke sein, und daß Vereinigung
ihrer Kräfte, ihrer Herden, ihrer Ländereien und Verträglichkeit und
Freundschaft untereinander die Grundfeste ihrer und der ganzen
bürgerlichen Wohlfahrt wären, und daß je wohlhäbiger sie durch
gegenseitige Hülfe würden, desto weniger sie den Druck der Abgaben
fühlten, desto weniger selbst Abgaben zu geben brauchten, die oft nur
deswegen verwendet werden, den Kredit des Landes von außen
emporzuhalten, weil er von innen zu sinken anfängt. Er bewies ihnen
aus der ältern und neuern Geschichte, doch immer so, daß sie es fassen
konnten, daß die Leidenschaften der Fürsten selbst immer mehr
Entsehen vor dem wohlhäbigen und fleißigen, als vor dem dürftigen
und verzagten Bürger gehabt, weil der Reichtum der Bürger auch ihr
eigener wäre. Er warnte sie ebensowohl vor Ausschweifungen und
Lüderlichkeiten, als vor den frühen Heiraten und den Zerstückelungen
ihrer Grundstücke, welches alles Verwirrung und Armseligkeit in ihre
Haushaltungen brächte. So fehlte es ihm keinen Sonntag an Stoff zum
Reden, welchen er von einzelen Fällen hernahm, und konnt' er nur gar
nicht dazu kommen, jemals an aristotelischen oder andern
theologischen Spitzfindigkeiten hängenzubleiben. Die Vesper des
Sonntags Nachmittags verwandelte er in eine ökonomische
Gesellschaft und zwar auf folgende Art. Er hielt ein kurzes herzliches
Gebet in der Kirche, alsdann versammlete er die Vorsteher und die
angesehensten Bürger des Dorfs um sich herum und sprach mit ihnen
von wirtschaftlichen Angelegenheiten. Sie mußten ihm alle ihre Klagen
übereinander, alle ihre Bedenklichkeiten über diese und jene neue
Einführung, alle Hindernisse ihres Güterbaues vortragen, und er
beantwortete sie ihnen, entweder sogleich, oder nahm sie bis auf den
folgenden Sonntag in Überlegung, mittlerweile er sich in Büchern oder
durch Korrespondenzen mit andern Landwirten darüber Rats erholte.
Endlich, damit er mit desto mehrerer Zuverlässigkeit von allen diesen
Sachen mit ihnen reden könnte, ging er mit einem der wohlhäbigsten
Bürger seines Dorfs einen Vertrag ein, vermittelst dessen jener ihm,
gegen soundso viel Stück Vieh und Auslagen der Baukosten, einen

verhältnismäßigen
Continue reading on your phone by scaning this QR Code

 / 25
Tip: The current page has been bookmarked automatically. If you wish to continue reading later, just open the Dertz Homepage, and click on the 'continue reading' link at the bottom of the page.