Der Ketzer von Soana | Page 6

Gerhart Hauptmann
nachforschen.« Man konnte
sehen, wie Träne um Träne von den geröteten Augenrändern des
Unbekannten über das struppige Antlitz herniederrann.
»Gut, gut,« sagte Francesco, der sich das aufgeregte Wesen seines
Besuchers nicht erklären konnte und übrigens davon nochmehr
beunruhigt, als ergriffen war -- »gut, gut, Eure Sache wird untersucht
werden. Nennt mir nur Euren Namen, guter Mann, und schickt mir
morgen früh Eure Kinder!« Der Angeredete schwieg hierauf und sah
Francesco mit einem ratlosen und gequälten Ausdruck lange an. Dieser
fragte nochmals: »Wie heißt Ihr? sagt Euren Namen.«
Dem Geistlichen war, von Anfang an, in den Bewegungen seines
Gastes etwas Furchtsames, gleichsam etwas Gehetztes aufgefallen.
Jetzt, wo er seinen Namen angeben sollte und draußen auf dem
steinernen Estrich gleichzeitig der Schritt Petronillas hörbar ward,
duckte er sich und zeigte überhaupt eine Schreckhaftigkeit, wie sie
meist nur Irrsinnigen oder Verbrechern eignet. Er schien verfolgt. Er
schien auf der Flucht vor Häschern zu sein.
Dennoch ergriff er ein Stück Papier und die Feder des Geistlichen, trat
seltsamerweise ins Dunkel, vom Lichte abgewandt, ans Fensterbrett,
wo unten ein naher Bach und, mehr von ferne, der Wasserfall von
Soana hereinrauschte, und malte, mit einiger Mühe, aber doch leserlich,
etwas auf, was er mit Entschluß dem Geistlichen zureichte. Dieser
sagte: »Gut!« und, mit dem Zeichen des Kreuzes: »geht mit Frieden!«
Der Wilde ging und ließ eine Wolke von Dünsten zurück, die nach

Salami, Zwiebel, Holzkohlenrauch, nach Ziegenbock und nach
Kuhstall dufteten. Sobald er hinaus war, riß Francesco das Fenster auf.
* * * * *
Den nächsten Morgen hatte Francesco, wie immer, seine Messe gelesen,
danach ein wenig geruht, danach sein frugales Frühstück zu sich
genommen und befand sich bald danach auf dem Wege zum Sindaco,
den man zeitig besuchen mußte, um ihn anzutreffen. Er fuhr nämlich
täglich von einer Bahnstation, tief unten am Seeufer, nach Lugano
hinein, wo er in einer der belebtesten Gassen einen Groß- und
Kleinhandel mit tessinischem Käse betrieb.
Die Sonne schien auf den kleinen, mit alten Kastanienbäumen, die
einstweilen noch kahl waren, bestandenen Platz, der dicht bei der
Kirche gelegen war und gleichsam die Agora der Ortschaft bildete. Auf
einigen Steinbänken saßen und spielten Kinder herum, während die
Mütter und älteren Töchter an einem von kaltem Bergwasser, womit er
reichlich gespeist wurde, überfließenden, antiken Marmor-Sarkophag
Wäsche wuschen und in Körben zum Trocknen davontrugen. Der
Boden war naß, weil am Tage vorher Regen, mit Schneeflocken
untermischt, gefallen war, wie denn der machtvolle Felsenabhang des
Monte Generoso unter Neuschnee, jenseits der Talschlucht, in seinem
eigenen Schatten mit unzugänglichen Schroffen aufragte und frische
Schneeluft herüberhauchte.
Der junge Priester ging mit niedergeschlagenen Augen an den
Wäscherinnen vorbei, deren lauten Gruß er durch Nicken erwiderte.
Den ihn umdrängenden Kindern ließ er, sie ältlich über die Brille
betrachtend, die Hand einen Augenblick, wo sie denn alle mit Eifer und
Hast ihre Lippen abwischten. Die Ortschaft, wie sie hinter dem Platz
begann, ward durch wenige enge Gassen gangbar gemacht. Aber selbst
die Hauptstraße konnte nur von kleinen Fuhrwerken und auch nur in
ihrem vorderen Teile benutzt werden. Nach dem Ausgang des Ortes zu
verengte sie sich und wurde noch überdies so steil, daß man höchstens
noch mit einem beladenen Maultier hindurch und hinan kommen
konnte. An diesem Sträßchen befand sich ein kleiner Kramladen und
die schweizerische Postagentur.

Der Postagent, der mit Francescos Vorgänger auf
kameradschaftlichstem Verkehrsfuß gestanden hatte, grüßte und ward
von Francesco wieder gegrüßt, aber doch nur so, daß zwischen dem
Ernst des Geweihten und der platten Freundlichkeit des Profanen der
volle Abstand gewahrt wurde. Nicht weit von der Post bog der Priester
in ein erbärmliches Seitengäßchen ein, das mit Treppen und Treppchen
auf eine halsbrecherische Weise, an geöffneten Ziegenställen und allen
Arten schmutziger, fensterloser, kellerartiger Höhlen vorüber, abwärts
stieg. Hühner gackerten, Katzen saßen auf morschen Galerien unter
Büscheln aufgehängter Maiskolben. Hie und da meckerte eine Ziege,
blökte ein Rind, das aus irgendeinem Grunde nicht mit auf die Weide
gezogen war.
Man konnte erstaunt sein, wenn man, aus dieser Umgebung kommend,
durch eine enge Pforte das Haus des Bürgermeisters betreten hatte und
sich in einer Flucht von kleinen, gewölbten Sälen befand, deren Decken
von Handwerkern, im Stile Tiepolos, figurenreich ausgemalt worden
waren. Hohe Fenster und Glastüren, mit langen, roten Gardinen
geschmückt, führten aus diesen sonnigen Räumen auf eine ebenso
sonnige, freie Terrasse hinaus, die von uraltem, kegelförmig
geschnittenen Buchsbaum und wundervollem Lorbeer geziert wurde.
Wie überall, so auch hier, vernahm man das schöne Rauschen des
Wasserfalls und hatte jenseits die wilde Bergwand sich gegenüber.
Der Sindaco, Sor Domenico, war ein gutgekleideter, in der Mitte der
vierziger Jahre stehender, ruhiger Mann, der vor kaum einem
Vierteljahre erst zum zweitenmal geheiratet hatte. Die schöne,
blühende, zweiundzwanzigjährige Frau, die Francesco in der blanken
Küche mit der Zubereitung des Frühstücks beschäftigt getroffen hatte,
geleitete ihn zu dem Gatten herein. Als jener die Erzählung des
Priesters, von dem Besuch, den er abends vorher empfangen
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