Der Ketzer von Soana | Page 7

Gerhart Hauptmann
hatte,
angehört und den Zettel gelesen hatte, der den Namen des Besuchers
und wilden Mannes in unbeholfenen Schriftzügen trug, ging ein
Lächeln durch seine Gesichtszüge. Dann, als er den jungen Sacerdote
Platz zu nehmen genötigt hatte, fing er, vollkommen sachlich, und ohne
daß die maskenhafte Gleichgültigkeit seiner Mienen jemals gestört
wurde, die gewünschte Auskunft über den mysteriösen Besucher, der

tatsächlich ein dem Pfarrer bisher verborgen gebliebener Bürger Soanas
war, zu geben an.
* * * * *
»Luchino Scarabota,« sagte der Sindaco -- es war der Name, den der
Besucher des Pfarrers auf den Zettel gekritzelt hatte! -- »ist ein
keineswegs armer Mann, aber schon seit Jahren machen seine
häuslichen Zustände mir und der ganzen Gemeinde Kopfschmerzen,
und es ist nicht eigentlich abzusehen, wo dies alles am Ende noch
hinauslaufen soll. Er gehört einer alten Familie an, und es ist sehr
wahrscheinlich, daß er etwas von dem Blut des berühmten Luchino
Scarabota da Milano in sich hat, der zwischen Vierzehn- und
Fünfzehnhundert das Langhaus des Domes unten in Como baute.
Solche alte, berühmte Namen haben wir ja, wie Sie wissen, Herr
Pfarrer, manche in unserem kleinen Ort.«
Der Sindaco hatte die Glastüre geöffnet und den Pfarrer während des
Redens auf die Terrasse hinausgeführt, wo er ihm, mit der ein wenig
erhobenen Hand, in dem trichterförmigen, steilen Quellgebiete des
Wasserfalles einen jener, aus rohem Stein gemauerten Würfel wies, wie
sie die Bauern der Gegend bewohnen. Aber dieses, in großer Höhe,
weit über allen anderen hängende Anwesen unterschied sich von jenen
nicht nur durch seine vereinzelte, scheinbar unzugängliche Lage,
sondern auch durch Kleinheit und Ärmlichkeit.
»Sehen Sie, dort, wo ich mit dem Finger hinzeige, wohnt dieser
Scarabota,« sagte der Sindaco.
»Es nimmt mich wunder, Herr Pfarrer,« fuhr der Sprechende fort, »daß
Sie von jener Alpe und ihren Bewohnern noch nichts gehört haben
sollten. Die Leute geben weit und breit in der ganzen Gegend seit
einem Jahrzehnt und länger das widerwärtigste Ärgernis. Leider kann
man ihnen nicht beikommen. Man hat die Frau vor Gericht gestellt, und
sie hat behauptet, die sieben Kinder, die sie geboren hat, stammten --
gibt es etwas Unsinnigeres? -- nicht von dem Manne, mit dem sie lebt,
sondern von sommerlichen Schweizer Touristen ab, die an der Alpe
vorüber müssen, wenn sie zum Generoso hinaufklettern. Dabei ist die

Vettel verlaust und schmutzstarrend und überdies abschreckend häßlich,
wie die Nacht.
Nein, es ist offenkundig, daß der Mann, der Sie gestern besucht hat und
mit dem sie lebt, Vater von ihren Kindern ist. Aber das ist der Punkt:
dieser Mensch ist zugleich ihr leiblicher Bruder.«
Der junge Priester verfärbte sich.
»Natürlich ist dies blutschänderische Paar von aller Welt gemieden und
in die Acht getan. In dieser Beziehung wird die vox populi selten fehl
gehen.« Mit dieser Erklärung setzte der Sindaco seine Erzählung fort.
»Sooft sich eines der Kinder etwa bei uns oder in Arogno oder in
Melano hat blicken lassen, ist es beinahe gesteinigt worden. Man hält
jede Kirche, soweit die Leute bekannt sind, für entweiht, wenn das
verruchte Geschwisterpaar sie betritt, und die beiden Verfemten haben
das, als sie den Versuch glaubten machen zu dürfen, auf eine so
furchtbare Weise zu fühlen bekommen, daß ihnen seit Jahren jede
Neigung zum Kirchenbesuch abhanden gekommen ist.
Und sollte man etwa gestatten«, fuhr der Sindaco fort, »daß solche
Kinder, solche verfluchte Kreaturen, die jedermanns Abscheu und
Grauen sind, hier unten in unsere Schule gehen und zwischen den
Kindern guter Christen in der Schulbank sitzen? Kann man uns
zumuten, wir sollen dulden, daß unsere ganze Ortschaft, Klein und
Groß, durch diese moralischen Schandprodukte, diese schlechten,
räudigen Bestien verpestet wird?«
Das bleiche Antlitz des Priesters Francesco verriet durch keine Miene,
inwieweit die Erzählung Sor Domenicos ihn berührt hatte. Er dankte
und ging mit dem gleichen würdigen Ernst im Ausdruck des ganzen
Wesens, mit dem er erschienen war, davon.
* * * * *
Francesco hatte bald nach der Unterredung mit dem Sindaco seinem
Bischof über den Fall Luchino Scarabota Bericht erstattet. Acht Tage
später war die Antwort des Bischofs in seiner Hand, die dem jungen

Geistlichen auftrug, sich von dem allgemeinen Stand der Verhältnisse
auf der sogenannten Alpe von Santa Croce persönlich zu unterrichten.
Der Bischof lobte dabei den geistlichen Eifer des jungen Manns und
bestätigte ihm, er habe wohl Ursach, sich dieser verirrten und
verfemten Seelen wegen in seinem Gewissen bedrängt zu fühlen und
auf ihre Errettung bedacht zu sein. Von den Segnungen und Tröstungen
der Mutterkirche dürfe man keinen noch so verirrten Sünder
ausschließen.
Erst gegen Ende des Monats März erlaubten die Amtsgeschäfte und
auch die Schneeverhältnisse des Berges Generoso dem jungen
Geistlichen von Soana, mit einem Landmann als Führer, den Aufstieg
zur Alpe von Santa Croce anzutreten. Ostern stand vor der Tür, und
trotzdem an der Schroffwand des Bergriesen fortwährend mit dumpfem
Donner Lawinen in die Schlucht unterm Wasserfall niedergingen, hatte
der Frühling überall, wo die
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