Der Ketzer von Soana | Page 4

Gerhart Hauptmann
Kühle, reichlicher
als das erstemal getafelt worden: Räucherschinken, Käse und
Weizenbrot, Feigen, frische Mispeln und Wein. Vielerlei war, nicht
übermütig, aber mit stiller Heiterkeit geplaudert worden. Endlich wurde
der Steintisch abgeräumt. Nun aber kam ein Augenblick, der dem
Herausgeber wie etwas eben Geschehenes gegenwärtig ist.
Der bronzefarbene Hirt machte, wie man weiß, mit seinem
ungepflegten, langen Gelock des Haupt- und Barthaares, sowie durch
seine Kleidung aus Fell den Eindruck der Verwilderung. Er ist mit
einem Johannes des Donatello verglichen worden. In der Tat hatten
auch sein Gesicht und das Antlitz jenes Johannes in der Feinheit der
Linien viel Ähnlichkeit. Ludovico war eigentlich, näher betrachtet,
schön, sofern man von dem Entstellenden der Brille absehen konnte.
Freilich erhielt die ganze Gestalt durch sie wiederum, neben dem leise
komischen Zug, das rätselhaft Sonderbare und Fesselnde. In dem
Augenblick, von dem die Rede ist, unterlag der ganze Mensch einer
Veränderung. Hatte das Bronzeartige seines Körpers sich auch durch
eine gewisse Unbeweglichkeit seiner Züge ausgedrückt, so wich es
insofern, als sie beweglich wurden und sich verjüngten. Er lächelte,
man könnte sagen, in einem Anflug knabenhafter Schamhaftigkeit.
»Was ich Ihnen jetzt zumute,« sagte er, »habe ich noch keinem anderen
Menschen vorgeschlagen. Woher ich den Mut plötzlich nehme, weiß
ich eigentlich selber nicht. Aus alter Gewohnheit vergangener Zeiten
lese ich gelegentlich noch und hantiere auch wohl noch mit Tinte und
Feder. So habe ich in müßigen Winterstunden eine simple Geschichte
niedergeschrieben, die lange vor meiner Zeit, hier in und um Soana,
sich ereignet haben soll. Sie werden sie äußerst einfach finden, mich

aber zog sie aus allerlei Gründen an, die ich jetzt nicht erörtern will.
Sagen Sie kurz und offen: wollen Sie mit mir nochmals ins Haus gehen
und fühlen Sie sich aufgelegt, etwas von Ihrer Zeit an diese Geschichte
zu verlieren, die auch mich schon ohne Nutzen manche Stunde gekostet
hat? Ich möchte nicht zu-, ich möchte abraten. Übrigens, wenn Sie
befehlen, nehme ich jetzt schon die Blätter des Manuskripts und werfe
sie in den Abgrund hinunter«.
Selbstverständlich geschah dies nicht. Er nahm den Weinkrug, ging mit
dem Besucher ins Haus, und beide saßen einander gegenüber. Der
Berghirt hatte ein in Mönchsschrift und auf starke Blätter geschriebenes
Manuskript aus feinstem Ziegenleder gewickelt. Wie um sich Mut zu
machen, trank er dem Besucher, eh er gleichsam vom Ufer abstieß, um
sich in den Fluß der Erzählung zu stürzen, noch einmal zu und begann
dann mit weicher Stimme.
Die Erzählung des Berghirten
An einem Bergabhang oberhalb des Luganer Sees ist unter vielen
anderen auch ein kleines Bergnest zu finden, das man auf einer steilen,
in Serpentinen verlaufenden Bergstraße in etwa einer Stunde, vom
Seeufer aus gerechnet, erreichen kann. Die Häuser des Ortes, die, wie
an den meisten italienischen Plätzen der Umgegend, eine einzige,
ineinandergeschachtelte, graue Ruine aus Stein und Mörtel sind, kehren
ihre Fronten einem schluchtähnlichen Tale zu, das von den Auen und
Terrassen des Fleckens und gegenüber von einem mächtigen Abhang
des überragenden Bergriesen Monte Generoso gebildet wird.
In dieses Tal, und zwar dort, wo es wirklich als enge Schlucht seinen
Abschluß nimmt, ergießt sich von einer wohl hundert Meter höher
gelegenen Talsohle ein Wasserfall, der je nach Tages- und Jahreszeit
und der gerade herrschenden Strömung der Luft, mehr oder weniger
stark, mit seinem Rauschen eine immerwährende Musik des Fleckens
ist.
In diese Gemeinde war vor langer Zeit ein etwa
fünfundzwanzigjähriger Priester versetzt worden, der Raffaele
Francesco hieß. Er war in Ligornetto geboren, also im Tessin, und

konnte sich rühmen, ein Mitglied desselben, dort ansässigen
Geschlechtes zu sein, das den bedeutendsten Bildhauer des geeinten
Italiens, hervorgebracht hatte, der ebenfalls in Ligornetto geboren
wurde und endlich auch dort gestorben ist.
Der junge Priester hatte seine Jugend bei Verwandten in Mailand und
seine Studienzeit in verschiedenen Priester-Seminaren der Schweiz und
Italiens zugebracht. Von seiner Mutter, die aus einem edlen
Geschlechte war, stammte die ernste Richtung seines Charakters, die
ihn ohne jedes Schwanken schon zeitig dem religiösen Beruf in die
Arme trieb.
Francesco, der eine Brille trug, zeichnete sich vor der Menge seiner
Mitschüler aus durch exemplarischen Fleiß, Strenge der Lebensführung
und Frömmigkeit. Selbst seine Mutter mußte ihm schonend nahelegen,
daß er als künftiger Weltgeistlicher sich ein wenig Lebensfreude wohl
gönnen möge und nicht eigentlich auf die strengsten Klosterregeln
verpflichtet sei. Sobald er die Weihen empfangen hatte, war es indessen
sein einziger Wunsch, eine möglichst entlegene Pfarre zu finden, um
sich dort als eine Art Eremit, nach Herzenslust, noch mehr, als bisher,
dem Dienste Gottes, seines Sohnes und dessen geheiligter Mutter zu
weihen.
Als er nun nach dem kleinen Soana gekommen war und das mit der
Kirche verbundene Pfarrhaus bezogen hatte, merkten die
Bergbewohner bald, daß er von einer ganz anderen Art als sein
Vorgänger war. Schon äußerlich, denn jener war ein massiver,
stierhafter Bauer gewesen, der die hübschen Weiber und Mädchen des
Orts mit Hilfe ganz anderer Mittel in seinem Gehorsam
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