Der Ketzer von Soana | Page 3

Gerhart Hauptmann
tiefste Vergangenheit, so ein gelehrtes Wissen von
nicht gewöhnlichem Umfang verratend. Er sprach von Apoll, wie

dieser bei Laomedon und Admetos die Herden besorgte, ein Knecht
und ein Hirte war. »Ich möchte wohl wissen, mit welchem Instrument
er damals seinen Herden Musik machte.« Und als wenn er von etwas
Wirklichem spräche, schloß er: »Bei Gott, ich hätte ihm gerne
zugehört.« Das waren die Augenblicke, in denen der zottige Anachoret
vielleicht den Eindruck erwecken konnte, als wären seine
Verstandeskräfte nicht eben ganz lückenlos. Andrerseits erfuhr der
Gedanke eine gewisse Rechtfertigung, als er bewies, wie vielfältig eine
Herde durch Musik zu beeinflussen und zu leiten sei. Mit einem Ton
jagte er sie empor, mit anderen brachte er sie zur Ruhe. Mit Tönen
holte er sie aus der Ferne, mit Tönen bewog er die Tiere, sich zu
zerstreuen oder, an seine Fersen geheftet, hinter ihm drein zu ziehen.
Es kamen auch Besuche vor, bei denen fast nichts geredet wurde. Einst,
als die drückende Hitze eines Juninachmittags bis auf die Almen des
Generoso gestiegen war, befand sich Ludovico, von seinen lagernden,
wiederkauenden Herden umgeben, ebenfalls liegend, in einem Zustand
seliger Dämmerung. Er blinzelte nur den Besucher an und veranlaßte
ihn durch einen Wink, sich ebenfalls ins Gras zu strecken. Er sagte
dann unvermittelt, nachdem dies geschehen war und beide eine Weile
schweigend gelagert hatten, in schleppendem Tone etwa dies:
»Sie wissen, daß Eros älter als Kronos und auch mächtiger ist. --
Fühlen Sie diese schweigende Glut um uns? Eros! -- Hören Sie, wie die
Grille feilt? Eros!« -- In diesem Augenblick jagten einander zwei
Eidechsen und huschten blitzschnell über den Liegenden weg. Er
wiederholte: »Eros! Eros!« -- Und als ob er das Kommando dazu
gegeben hätte, erhoben sich jetzt zwei starke Böcke und griffen
einander mit den gewundenen Hörnern an. Er ließ sie gewähren,
obgleich der Kampf immer hitziger wurde. Das Klappern der Stöße
erklang immer lauter und ihre Zahl nahm immer zu. Und wieder sagte
er: »Eros! Eros!«
Und nun drangen an das Ohr des Besuchers zum erstenmal Worte, die
ihn ganz besonders aufhorchen ließen, weil sie einigermaßen über die
Frage Licht verbreiteten oder wenigstens zu verbreiten schienen,
warum Ludovico im Volksmund »der Ketzer« hieß. »Lieber,« sagte er,

»will ich einen lebendigen Bock oder einen lebendigen Stier, als einen
Gehängten am Galgen anbeten. Ich lebe nicht in der Zeit, die das tut.
Ich hasse, ich verachte sie. Jupiter Ammon wurde mit Widderhörnern
dargestellt. Pan hat Bocksbeine, Bacchus hat Stierhörner. Ich meine
den Bacchus Tauriformis oder Tauricornis der Römer. Mithra, der
Sonnengott, wird als Stier dargestellt. Alle Völker verehrten den Stier,
den Bock, den Widder und vergossen im Opfer sein heiliges Blut. Dazu
sage ich: ja! -- denn die zeugende Macht ist die höchste Macht, die
zeugende Macht ist die schaffende Macht, Zeugen und Schaffen ist das
gleiche. Freilich, der Kultus dieser Macht ist kein kühles Geplärr von
Mönchen und Nonnen. Ich habe einmal von Sita, dem Weibe Vichnus,
geträumt, die unter dem Namen Rama ein Mensch wurde. Die Priester
starben in ihren Umarmungen. Ich habe da vorübergehend etwas von
allerlei Mysterien gewußt: dem Mysterium der schwarzen Zeugung im
grünen Gras, von dem der perlmuttfarbenen Wollust, der Entzückungen
und Betäubungen, vom Geheimnis der gelben Maiskörner, aller Früchte,
aller Schwellungen, aller Farben überhaupt. Ich hätte brüllen können im
Wahnsinn des Schmerzes, als ich der unbarmherzigen, allmächtigen
Sita ansichtig wurde. Ich glaubte zu sterben vor Begier.«
Während dieser Eröffnung kam sich der Schreiber dieser Zeilen wie ein
unfreiwilliger Horcher vor. Er stand auf, mit einigen Worten, die
glauben machen sollten, daß er das Selbstgespräch nicht gehört habe,
sondern mit seinen Gedanken bei anderen Dingen gewesen sei. Danach
wollte er sich verabschieden. Ludovico ließ es nicht zu. Und so begann
denn auf der Bergterrasse abermals eine Gasterei, deren Verlauf aber
diesmal bedeutsam und unvergeßlich war.
Der Besucher wurde gleich bei der Ankunft in die Wohnung, den
Innenraum des schon geschilderten Würfels, eingeführt. Er war
quadratisch, sauber, hatte einen Kamin und glich dem schlichten
Arbeitszimmer eines Gelehrten. Vorhanden war Tinte, Feder, Papier
und eine kleine Bücherei, hauptsächlich griechischer und lateinischer
Schriftsteller. »Warum soll ich es Ihnen verhehlen,« sagte der Hirt,
»daß ich aus guter Familie bin, eine mißleitete Jugend und gelehrte
Bildung genossen habe. Sie werden natürlich wissen wollen, wie ich
aus einem unnatürlichen Menschen ein natürlicher, aus einem

gefangenen ein freier, aus einem zerstörten und verdrossenen ein
glücklicher und zufriedener geworden bin? Oder wie ich mich selbst
aus der bürgerlichen Gesellschaft und der Christenheit ausgeschlossen
habe?« Er lachte laut. »Vielleicht schreibe ich einmal die Geschichte
meiner Umwandlung«. Der Besucher, dessen Spannung aufs höchste
gestiegen war, fand sich plötzlich wiederum weit vom Ziele
verschlagen. Es konnte ihm dabei wenig helfen, daß der Gastfreund
zum Schluß erklärte, die Ursache seiner Erneuerung sei: er bete
natürliche Symbole an. Im Schatten des Felsens, auf der Terrasse, am
Rande der überfließenden Wanne war, in köstlicher
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