Der Heizer | Page 4

Franz Kafka

unverständliche Prospekte der Auswanderungsagenturen zu entziffern.
War ein solches Licht in der Nähe, dann konnte Karl ein wenig
eindämmern, war es aber in der Ferne, oder war dunkel, dann mußte er
die Augen offenhalten. Diese Anstrengung hatte ihn recht erschöpft,
und nun war sie vielleicht ganz umsonst gewesen. Dieser Butterbaum,
wenn er ihn einmal irgendwo treffen sollte!
In diesem Augenblick ertönten draußen in weiter Ferne in die bisherige
vollkommene Ruhe hinein kleine kurze Schläge, wie von Kinderfüßen,
sie kamen näher mit verstärktem Klang und nun war es ein ruhiger
Marsch von Männern. Sie gingen offenbar, wie es in dem schmalen
Gang natürlich war, in einer Reihe, man hörte Klirren wie von Waffen.
Karl, der schon nahe daran gewesen war, sich im Bett zu einem von
allen Sorgen um Koffer und Slowaken befreiten Schlafe auszustrecken,
schreckte auf und stieß den Heizer an, um ihn endlich aufmerksam zu
machen, denn der Zug schien mit seiner Spitze die Tür gerade erreicht
zu haben. »Das ist die Schiffskapelle,« sagte der Heizer, »die haben
oben gespielt und gehen jetzt einpacken. Jetzt ist alles fertig und wir
können gehen. Kommen Sie!« Er faßte Karl bei der Hand, nahm noch
im letzten Augenblick ein eingerahmtes Muttergottesbild von der Wand
über dem Bett, stopfte es in seine Brusttasche, ergriff seinen Koffer und
verließ mit Karl eilig die Kabine.
»Jetzt gehe ich ins Bureau und werde den Herren meine Meinung sagen.
Es ist kein Passagier mehr da, man muß keine Rücksicht nehmen«.
Dieses wiederholte der Heizer verschiedenartig und wollte im Gehen
mit Seitwärtsstoßen des Fußes eine den Weg kreuzende Ratte
niedertreten, stieß sie aber bloß schneller in das Loch hinein, das sie
noch rechtzeitig erreicht hatte. Er war überhaupt langsam in seinen
Bewegungen, denn wenn er auch lange Beine hatte, so waren sie doch
zu schwer.
Sie kamen durch eine Abteilung der Küche, wo einige Mädchen in
schmutzigen Schürzen -- sie begossen sie absichtlich -- Geschirr in
großen Bottichen reinigten. Der Heizer rief eine gewisse Line zu sich,
legte den Arm um ihre Hüfte und führte sie, die sich immerzu kokett

gegen seinen Arm drückte, ein Stückchen mit. »Es gibt jetzt
Auszahlung, willst du mitkommen?« fragte er. »Warum soll ich mich
bemühn, bring mir das Geld lieber her,« antwortete sie, schlüpfte unter
seinem Arm durch und lief davon. »Wo hast du denn den schönen
Knaben aufgegabelt?« rief sie noch, wollte aber keine Antwort mehr.
Man hörte das Lachen aller Mädchen, die ihre Arbeit unterbrochen
hatten.
Sie gingen aber weiter und kamen an eine Tür, die oben einen kleinen
Vorgiebel hatte, der von kleinen, vergoldeten Karyatiden getragen war.
Für eine Schiffseinrichtung sah das recht verschwenderisch aus. Karl
war, wie er merkte, niemals in diese Gegend gekommen, die
wahrscheinlich während der Fahrt den Passagieren der ersten und
zweiten Klasse vorbehalten gewesen war, während man jetzt vor der
großen Schiffsreinigung die Trennungstüren ausgehoben hatte. Sie
waren auch tatsächlich schon einigen Männern begegnet, die Besen an
der Schulter trugen und den Heizer gegrüßt hatten. Karl staunte über
den großen Betrieb, in seinem Zwischendeck hatte er davon freilich
wenig erfahren. Entlang der Gänge zogen sich auch Drähte elektrischer
Leitungen und eine kleine Glocke hörte man immerfort.
Der Heizer klopfte respektvoll an der Türe an und forderte, als man
»herein« rief, Karl mit einer Handbewegung auf, ohne Furcht
einzutreten. Er trat auch ein, aber blieb an der Türe stehen. Vor den drei
Fenstern des Zimmers sah er die Wellen des Meeres und bei
Betrachtung ihrer fröhlichen Bewegung schlug ihm das Herz, als hätte
er nicht fünf lange Tage das Meer ununterbrochen gesehen. Große
Schiffe kreuzten gegenseitig ihre Wege und gaben dem Wellenschlag
nur soweit nach als es ihre Schwere erlaubte. Wenn man die Augen
klein machte, schienen diese Schiffe vor lauter Schwere zu schwanken.
Auf ihren Masten trugen sie schmale, aber lange Flaggen, die zwar
durch die Fahrt gestrafft wurden, trotzdem aber noch hin- und
herzappelten. Wahrscheinlich von Kriegsschiffen her erklangen
Salutschüsse, die Kanonenrohre eines solchen nicht allzuweit
vorüberfahrenden Schiffes, strahlend mit dem Reflex ihres
Stahlmantels, waren wie gehätschelt von der sicheren, glatten und doch
nicht wagrechten Fahrt. Die kleinen Schiffchen und Boote konnte man,

wenigstens von der Tür aus, nur in der Ferne beobachten, wie sie in
Mengen in die Öffnungen zwischen den großen Schiffen einliefen.
Hinter alledem aber stand New York und sah Karl mit den
hunderttausend Fenstern seiner Wolkenkratzer an. Ja, in diesem
Zimmer wußte man, wo man war.
An einem runden Tisch saßen drei Herren, der eine ein Schiffsoffizier
in blauer Schiffsuniform, die zwei anderen, Beamte der Hafenbehörde,
in schwarzen, amerikanischen Uniformen. Auf dem Tisch lagen,
hochaufgeschichtet, verschiedene Dokumente, welche der Offizier
zuerst mit der Feder in der Hand überflog, um sie dann den beiden
anderen zu reichen, die bald lasen, bald exzerpierten, bald in ihre
Aktentaschen einlegten, wenn nicht gerade der eine, der fast
ununterbrochen ein kleines Geräusch mit den Zähnen vollführte,
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