"Mein Vater war ehrgeizig und heftig.
Meine Brüder taten ihm genug. Mich nannte man einen langsamen
Kopf; und ich war langsam. Wenn ich mich recht erinnere", sprach er
weiter, und dabei senkte er, seitwärts gewandt, wie in eine weite Ferne
hinausblickend, den Kopf gegen die unterstützende linke Hand--"wenn
ich mich recht erinnere, so wäre ich wohl imstande gewesen, allerlei zu
erlernen, wenn man mir nur Zeit und Ordnung gegönnt hätte. Meine
Brüder sprangen wie Gemsen von Spitze zu Spitze in den Lehrgegen-
ständen herum, ich konnte aber durchaus nichts hinter mir lassen, und
wenn mir ein einziges Wort fehlte, mußte ich von vorne anfangen. So
ward ich denn immer gedrängt. Das Neue sollte auf den Platz, den das
Alte noch nicht verlassen hatte, und ich begann stockisch zu werden.
So hatten sie mir die Musik, die jetzt die Freude und zugleich der Stab
meines Lebens ist, geradezu verhaßt gemacht. Wenn ich abends im
Zwielicht die Violine ergriff, um mich nach meiner Art ohne Noten zu
vergnügen, nahmen sie mir das Instrument und sagten, das verdirbt die
Applikatur, klagten über Ohrenfolter und verwiesen mich auf die
Lehrstunde, wo die Folter für mich anging. Ich habe zeitlebens nichts
und niemand so gehaßt, als ich damals die Geige haßte.
Mein Vater, aufs äußerste unzufrieden, schalt mich häufig und drohte,
mich zu einem Handwerke zu geben. Ich wagte nicht zu sagen, wie
glücklich mich das gemacht hätte. Ein Drechsler oder Schriftsetzer
wäre ich gar zu gerne gewesen. Er hätte es ja aber doch nicht
zugelassen, aus Stolz. Endlich gab eine öffentliche Schulprüfung, der
man, um ihn zu begütigen, meinen Vater beizuwohnen beredet hatte,
den Ausschlag. Ein unredlicher Lehrer bestimmte im voraus, was er
mich fragen werde, und so ging alles vortrefflich. Endlich aber fehlte
mir, es waren auswendig zu sagende Verse des Horaz--ein Wort. Mein
Lehrer, der kopfnickend und meinen Vater anlächelnd zugehört hatte,
kam meinem Stocken zu Hilfe und flüsterte es mir zu. Ich aber, der das
Wort in meinem Innern und im Zusammenhange mit dem übrigen
suchte, hörte ihn nicht. Er wiederholte es mehrere Male; umsonst.
Endlich verlor mein Vater die Geduld. Cachinnum! (so hieß das Wort)
schrie er mir donnernd zu. Nun war's geschehen. Wußte ich das eine, so
hatte ich dafür das übrige vergessen. Alle Mühe, mich auf die rechte
Bahn zu bringen, war verloren. Ich mußte mit Schande aufstehen, und
als ich, der Gewohnheit nach, hinging, meinem Vater die Hand zu
küssen, stieß er mich zurück, erhob sich, machte der Versammlung eine
kurze Verbeugung und ging. Ce gueux schalt er mich, was ich damals
nicht war, aber jetzt bin. Die Eltern prophezeien, wenn sie reden!
Übrigens war mein Vater ein guter Mann. Nur heftig und ehrgeizig.
Von diesem Tage an sprach er kein Wort mehr mit mir. Seine Befehle
kamen mir durch die Hausgenossen zu. So kündigte man mir gleich des
nächsten Tages an, daß es mit meinen Studien ein Ende habe. Ich
erschrak heftig, weil ich wußte, wie bitter es meinen Vater kränken
mußte. Ich tat den ganzen Tag nichts als weinen und dazwischen jene
lateinischen Verse rezitieren, die ich nun aufs Und wußte mit den
vorhergehenden und nachfolgenden dazu. Ich versprach, durch Fleiß
den Mangel an Talenten zu ersetzen, wenn man mich noch ferner die
Schule besuchen ließe, mein Vater nahm aber nie einen Entschluß
zurück.
Eine Weile blieb ich nun unbeschäftigt im väterlichen Hause. Endlich
tat man mich versuchsweise zu einer Rechenbehörde. Rechnen war
aber nie meine Stärke gewesen. Den Antrag, ins Militär zu treten, wies
ich mit Abscheu zurück. Ich kann noch jetzt keine Uniform ohne
innerlichen Schauder ansehen. Daß man werte Angehörige allenfalls
auch mit Lebensgefahr schützt, ist wohl gut und begreiflich; aber
Blutvergießen und Verstümmlung als Stand, als Beschäftigung. "Nein!
Nein! Nein!" Und dabei fuhr er mit beiden Händen über beide Arme,
als fühlte er stechend eigene und fremde Wunden.
"Ich kam nun in die Kanzlei unter die Abschreiber. Da war ich recht an
meinem Platze. Ich hatte immer das Schreiben mit Lust getrieben, und
noch jetzt weiß ich mir keine angenehmere Unterhaltung, als mit guter
Tinte auf gutem Papier Haar- und Schattenstriche aneinander- zufügen
zu Worten oder auch nur zu Buchstaben. Musiknoten sind nun gar
überaus schön. Damals dachte ich aber noch an keine Musik.
Ich war fleißig, nur aber zu ängstlich. Ein unrichtiges
Unterscheidungszeichen, ein ausgelassenes Wort im Konzepte, wenn es
sich auch aus dem Sinne ergänzen ließ, machte mir bittere Stunden, Im
Zweifel, ob ich mich genau ans Original halten oder aus eigenem
beisetzen sollte, verging die Zeit angstvoll, und ich kam in den Ruf,
nachlässig zu sein, indes ich mich im Dienst abquälte wie keiner. So
brachte ich ein paar Jahre zu, und zwar ohne Gehalt, da, als die Reihe
der Beförderung an mich kam, mein Vater im Rate einem andern seine
Stimme gab und die übrigen ihm zufielen aus Ehrfurcht.
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