ihn erfreute, ja
entzückte, indes er dem letztern, auch dem harmonisch begründeten,
nach Möglichkeit aus dem Wege ging. Statt nun in einem Musikstücke
nach Sinn und Rhythmus zu betonen, hob er heraus, verlängerte er die
dem Gehör wohltuenden Noten und Intervalle, ja nahm keinen Anstand,
sie willkürlich zu wiederholen, wobei sein Gesicht oft geradezu den
Ausdruck der Verzückung annahm. Da er nun zugleich die
Dissonanzen so kurz als möglich abtat, überdies die für ihn zu
schweren Passagen, von denen er aus Gewissenhaftigkeit nicht eine
Note fallen ließ, in einem gegen das Ganze viel zu langsamen Zeitmaß
vortrug, so kann man sich wohl leicht eine Idee von der Verwirrung
machen, die daraus hervorging. Mir ward es nachgerade selbst zuviel.
Um ihn aus seiner Abwesenheit zurückzubringen, ließ ich absichtlich
den Hut fallen, nachdem ich mehrere Mittel schon fruchtlos versucht
hatte. Der alte Mann fuhr zusammen, seine Knie zitterten, kaum konnte
er die zum Boden gesenkte Violine halten. Ich trat hinzu. "Oh, Sie
sind's, gnädiger Herr!" sagte er, gleichsam zu sich selbst kommend.
"Ich hatte nicht auf Erfüllung Ihres hohen Versprechens gerechnet." Er
nötigte mich zu sitzen, räumte auf, legte hin, sah einigemal verlegen im
Zimmer herum, ergriff dann plötzlich einen auf einem Tische neben der
Stubentür stehenden Teller und ging mit demselben zu jener hinaus. Ich
hörte ihn draußen mit der Gärtnersfrau sprechen. Bald darauf kam er
wieder verlegen zur Türe herein, wobei er den Teller hinter dem
Rücken verbarg und heimlich wieder hinstellte. Er hatte offenbar Obst
verlangt, um mich zu bewirten, es aber nicht erhalten können. "Sie
wohnen hier recht hübsch", sagte ich, um seiner Verlegenheit ein Ende
zu machen. "Die Unordnung ist verwiesen. Sie nimmt ihren Rückzug
durch die Türe, wenn sie auch derzeit noch nicht ganz über die
Schwelle ist.--Meine Wohnung reicht nur bis zu dem Striche", sagte der
Alte, wobei er auf die Kreidenlinie in der Mitte des Zimmers zeigte.
"Dort drüben wohnen zwei Handwerksgesellen."--"Und respektieren
diese Ihre Bezeichnung?"--"Sie nicht, aber ich", sagte er. "Nur die Türe
ist gemeinschaftlich."--"Und werden Sie nicht gestört von Ihrer
Nachbarschaft?"--"Kaum", meinte er. "Sie kommen des Nachts spät
nach Hause, und wenn sie mich da auch ein wenig im Bette
aufschrecken, so ist dafür die Lust des Wiedereinschlafens um so
größer. Des Morgens aber wecke ich sie, wenn ich mein Zimmer in
Ordnung bringe. Da schelten sie wohl ein wenig und gehen." Ich hatte
ihn währenddessen betrachtet. Er war höchst reinlich gekleidet, die
Gestalt gut genug für seine Jahre, nur die Beine etwas zu kurz. Hand
und Fuß von auffallender Zartheit.--"Sie sehen mich an", sagte er, "und
haben dabei Ihre Gedanken?"--"Daß ich nach Ihrer Geschichte lüstern
bin", versetzte ich.--"Geschichte?" wiederholte er. "Ich habe keine
Geschichte. Heute wie gestern, und morgen wie heute. übermorgen
freilich und weiter hinaus, wer kann das wissen? Doch Gott wird
sorgen, der weiß es"--"Ihr jetziges Leben mag wohl einförmig genug
sein", fuhr ich fort; "aber Ihre früheren Schicksale. Wie es sich fügte--"
"Daß ich unter die Musikleute kam?" fiel er in die Pause ein, die ich
unwillkürlich gemacht hatte. Ich erzählte ihm nun, wie er mir beim
ersten Anblicke aufgefallen; den Eindruck, den die von ihm
gesprochenen lateinischen Worte auf mich gemacht hätten.
"Lateinisch", tönte er nach. "Lateinisch? das habe ich freilich auch
einmal gelernt oder vielmehr hätte es lernen sollen und können.
Loqueris latine?" wandte er sich gegen mich, "aber ich könnte es nicht
fortsetzen. Es ist gar zu lange her. Das also nennen Sie meine
Geschichte? Wie es kam?--Ja so! da ist denn freilich allerlei geschehen;
nichts Besonderes, aber doch allerlei. Möchte ich mir's doch selbst
einmal wieder erzählen. Ob ich's nicht gar vergessen habe. Es ist noch
früh am Morgen", fuhr er fort, wobei er in die Uhrtasche griff, in der
sich freilich keine Uhr befand.--Ich zog die meine, es war kaum 9
Uhr.--"Wir haben Zeit, und fast kommt mich die Lust zu schwatzen
an." Er war während des letzten zusehends ungezwungener geworden.
Seine Gestalt verlängerte sich. Er nahm mir ohne zu große Umstände
den Hut aus der Hand und legte ihn aufs Bette; schlug sitzend ein Bein
über das andere und nahm überhaupt die Lage eines mit
Bequemlichkeit Erzählenden an.
"Sie haben"--hob er an--"ohne Zweifel von dem Hofrate--gehört?" Hier
nannte er den Namen eines Staatsmannes, der in der [zweiten] Hälfte
des vorigen Jahrhunderts unter dem bescheidenen Titel eines
Bureauchefs einen ungeheuren, beinahe ministerähnlichen Einfluß
ausgeübt hatte. Ich bejahte meine Kenntnis des Mannes. "Er war mein
Vater", fuhr er fort.--Sein Vater? des alten Spielmanns? des Bettlers?
Der Einflußreiche, der Mächtige sein Vater? Der Alte schien mein
Erstaunen nicht zu bemerken, sondern spann, sichtbar vergnügt, den
Faden seiner Erzählung weiter. "Ich war der mittlere von drei Brüdern,
die in Staatsdiensten hoch hinaufkamen, nun aber schon beide tot sind;
ich allein lebe noch", sagte er und zupfte dabei an seinen
fadenscheinigen Beinkleidern, mit niedergeschlagenen Augen einzelne
Federchen davon herablesend.
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