Um diese Zeit--sieh nur", unterbrach er sich, "es gibt denn doch eine
Art Geschichte. Erzählen wir die Geschichte! Um diese Zeit ereigneten
sich zwei Begebenheiten: die traurigste und die freudigste meines
Lebens. Meine Entfernung aus dem väterlichen Hause nämlich und das
Wiederkehren zur holden Tonkunst, zu meiner Violine, die mir treu
geblieben ist bis auf diesen Tag.
Ich lebte in dem Hause meines Vaters, unbeachtet von den
Hausgenossen, in einem Hinterstübchen, das in den Nachbars-Hof
hinausging. Anfangs aß ich am Familientische, wo niemand ein Wort
an mich richtete. Als aber meine Brüder auswärts befördert wurden und
mein Vater beinahe täglich zu Gast geladen war--die Mutter lebte seit
lange nicht mehr--, fand man es unbequem, meinetwegen eine eigene
Küche zu führen. Die Bedienten erhielten Kostgeld; ich auch, das man
mir aber nicht auf die Hand gab, sondern monatweise im Speisehause
bezahlte. Ich war daher wenig in meiner Stube, die Abendstunden
ausgenommen; denn mein Vater verlangte, daß ich längstens eine halbe
Stunde nach dem Schluß der Kanzlei zu Hause sein sollte. Da saß ich
denn, und zwar, meiner schon damals angegriffenen Augen halber, in
der Dämmerung ohne Licht. Ich dachte auf das und jenes und war nicht
traurig und nicht froh.
Wenn ich nun so saß, hörte ich auf dem Nachbarshofe ein Lied singen.
Mehrere Lieder heißt das, worunter mir aber eines vorzüglich gefiel. Es
war so einfach, so rührend und hatte den Nachdruck so auf der rechten
Stelle, daß man die Worte gar nicht zu hören brauchte. Wie ich denn
überhaupt glaube, die Worte verderben die Musik." Nun öffnete er den
Mund und brachte einige heisere, rauhe Töne hervor. "Ich habe von
Natur keine Stimme", sagte er und griff nach der Violine. Er spielte,
und zwar diesmal mit richtigem Ausdrucke, die Melodie eines
gemütlichen, übrigens gar nicht ausgezeichneten Liedes, wobei ihm die
Finger auf den Saiten zitterten und endlich einzelne Tränen über die
Backen liefen.
"Das war das Lied", sagte er, die Violine hinlegend. "Ich hörte es
immer mit neuem Vergnügen. Sosehr es mir aber im Gedächtnis
lebendig war, gelang es mir doch nie, mit der Stimme auch nur zwei
Töne davon richtig zu treffen. Ich ward fast ungeduldig von Zuhören.
Da fiel mir meine Geige in die Augen, die aus meiner Jugend her, wie
ein altes Rüststück, ungebraucht an der Wand hing. Ich griff darnach,
und--es mochte sie wohl der Bediente in meiner Abwesenheit benützt
haben--sie fand sich richtig gestimmt. Als ich nun mit dem Bogen über
die Saiten fuhr, Herr, da war es, als ob Gottes Finger mich angerührt
hätte. Der Ton drang in mein Inneres hinein und aus dem Innern wieder
heraus. Die Luft um mich war wie geschwängert mit Trunkenheit. Das
Lied unten im Hofe und die Töne von meinen Fingern an mein Ohr,
Mitbewohner meiner Einsamkeit. Ich fiel auf die Knie und betete laut
und konnte nicht begreifen, daß ich das holde Gotteswesen einmal
gering geschätzt, ja gehaßt in meiner Kindheit, und küßte die Violine
und drückte sie an mein Herz und spielte wieder und fort.
Das Lied im Hofe--es war eine Weibsperson, die sang--tönte derweile
unausgesetzt; mit dem Nachspielen ging es aber nicht so leicht.
Ich hatte das Lied nämlich nicht in Noten. Auch merkte ich wohl, daß
ich das Wenige der Geigenkunst, was ich etwa einmal wußte, so
ziemlich vergessen hatte. Ich konnte daher nicht das und das, sondern
nur überhaupt spielen. Obwohl mir das jeweilige Was der Musik, mit
Ausnahme jenes Lieds, immer ziemlich gleichgültig war und auch
geblieben ist bis zum heutigen Tag. Sie spielen den Wolfgang
Amadeus Mozart und den Sebastian Bach, aber den lieben Gott spielt
keiner. Die ewige Wohltat und Gnade des Tons und Klangs, seine
wundertätige Übereinstimmung mit dem durstigen, zerlechzenden Ohr,
daß"--fuhr er leiser und schamrot fort--"der dritte Ton
zusammenstimmt mit dem ersten, und der fünfte desgleichen, und die
Nota sensibilis hinaufsteigt wie eine erfüllte Hoffnung, die Dissonanz
herabgebeugt wird als wissentliche Bosheit oder vermessener Stolz und
die Wunder der Bindung und Umkehrung, wodurch auch die Sekunde
zur Gnade gelangt in den Schoß des Wohlklangs.--Mir hat das alles,
obwohl viel später, ein Musiker erklärt. Und, wovon ich aber nichts
verstehe, die fuga und das punctum contra punctum und der canon a
due, a tre und so fort, ein ganzes Himmelsgebäude, eines ins andere
greifend, ohne Mörtel verbunden, und gehalten von Gottes Hand.
Davon will niemand etwas wissen bis auf wenige. Vielmehr stören sie
dieses Ein- und Ausatmen der Seelen durch Hinzufügung allenfalls
auch zu sprechender Worte, wie die Kinder Gottes sich verbanden mit
den Töchtern der Erde; daß es hübsch angreife und eingreife in ein
schwieliges Gemüt. Herr", schloß er endlich, halb erschöpft, "die Rede
ist dem Menschen notwendig wie Speise, man sollte aber auch den
Trank rein erhalten, der da kommt von Gott."
Ich kannte meinen Mann beinahe nicht mehr, so lebhaft war er
geworden. Er hielt ein
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