Oder willst du gleich ins
Vorderzimmer gehn, dann legst du dich vorläufig in mein Bett. Das
wäre übrigens sehr vernünftig.«
Georg stand knapp neben seinem Vater, der den Kopf mit dem
struppigen weißen Haar auf die Brust hatte sinken lassen.
»Georg«, sagte der Vater leise, ohne Bewegung.
Georg kniete sofort neben dem Vater nieder, er sah die Pupillen in dem
müden Gesicht des Vaters übergroß in den Winkeln der Augen auf sich
gerichtet.
»Du hast keinen Freund in Petersburg. Du bist immer ein Spaßmacher
gewesen und hast dich auch mir gegenüber nicht zurückgehalten. Wie
solltest du denn gerade dort einen Freund haben! Das kann ich gar nicht
glauben.«
»Denk doch noch einmal nach, Vater,« sagte Georg, hob den Vater
vom Sessel und zog ihm, wie er nun doch recht schwach dastand, den
Schlafrock aus, »jetzt wird es bald drei Jahre her sein, da war ja mein
Freund bei uns zu Besuch. Ich erinnere mich noch, daß du ihn nicht
besonders gern hattest. Wenigstens zweimal habe ich ihn vor dir
verleugnet, trotzdem er gerade bei mir im Zimmer saß. Ich konnte ja
deine Abneigung gegen ihn ganz gut verstehn, mein Freund hat seine
Eigentümlichkeiten. Aber dann hast du dich doch auch wieder ganz gut
mit ihm unterhalten. Ich war damals noch so stolz darauf, daß du ihm
zuhörtest, nicktest und fragtest. Wenn du nachdenkst, mußt du dich
erinnern. Er erzählte damals unglaubliche Geschichten von der
russischen Revolution. Wie er z. B. auf einer Geschäftsreise in Kiew
bei einem Tumult einen Geistlichen auf einem Balkon gesehen hatte,
der sich ein breites Blutkreuz in die flache Hand schnitt, diese Hand
erhob und die Menge anrief. Du hast ja selbst diese Geschichte hie und
da wiedererzählt.«
Währenddessen war es Georg gelungen, den Vater wieder
niederzusetzen und ihm die Trikothose, die er über den
Leinenunterhosen trug, sowie die Socken vorsichtig auszuziehn. Beim
Anblick der nicht besonders reinen Wäsche machte er sich Vorwürfe,
den Vater vernachlässigt zu haben. Es wäre sicherlich auch seine
Pflicht gewesen, über den Wäschewechsel seines Vaters zu wachen. Er
hatte mit seiner Braut darüber, wie sie die Zukunft des Vaters
einrichten wollten, noch nicht ausdrücklich gesprochen, denn sie hatten
stillschweigend vorausgesetzt, daß der Vater allein in der alten
Wohnung bleiben würde. Doch jetzt entschloß er sich kurz mit aller
Bestimmtheit, den Vater in seinen künftigen Haushalt mitzunehmen. Es
schien ja fast, wenn man genauer zusah, daß die Pflege, die dort dem
Vater bereitet werden sollte, zu spät kommen könnte.
Auf seinen Armen trug er den Vater ins Bett. Ein schreckliches Gefühl
hatte er, als er während der paar Schritte zum Bett hin merkte, daß an
seiner Brust der Vater mit seiner Uhrkette spiele. Er konnte ihn nicht
gleich ins Bett legen, so fest hielt er sich an dieser Uhrkette.
Kaum war er aber im Bett, schien alles gut. Er deckte sich selbst zu und
zog dann die Bettdecke noch besonders weit über die Schulter. Er sah
nicht unfreundlich zu Georg hinauf.
»Nicht wahr, du erinnerst dich schon an ihn?« fragte Georg und nickte
ihm aufmunternd zu.
»Bin ich jetzt gut zugedeckt?« fragte der Vater, als könne er nicht
nachschauen, ob die Füße genug bedeckt seien.
»Es gefällt dir also schon im Bett«, sagte Georg und legte das
Deckzeug besser um ihn.
»Bin ich gut zugedeckt?« fragte der Vater noch einmal und schien auf
die Antwort besonders aufzupassen.
»Sei nur ruhig, du bist gut zugedeckt.«
»Nein!« rief der Vater, daß die Antwort an die Frage stieß, warf die
Decke zurück mit einer Kraft, daß sie einen Augenblick im Fluge sich
ganz entfaltete, und stand aufrecht im Bett. Nur eine Hand hielt er
leicht an den Plafond. »Du wolltest mich zudecken, das weiß ich, mein
Früchtchen, aber zugedeckt bin ich noch nicht. Und ist es auch die
letzte Kraft, genug für dich, zuviel für dich. Wohl kenne ich deinen
Freund. Er wäre ein Sohn nach meinem Herzen. Darum hast du ihn
auch betrogen die ganzen Jahre lang. Warum sonst? Glaubst du, ich
habe nicht um ihn geweint? Darum doch sperrst du dich in dein Bureau,
niemand soll stören, der Chef ist beschäftigt -- nur damit du deine
falschen Briefchen nach Rußland schreiben kannst. Aber den Vater
muß glücklicherweise niemand lehren, den Sohn zu durchschauen. Wie
du jetzt geglaubt hast, du hättest ihn untergekriegt, so untergekriegt,
daß du dich mit deinem Hintern auf ihn setzen kannst und er rührt sich
nicht, da hat sich mein Herr Sohn zum Heiraten entschlossen!«
Georg sah zum Schreckbild seines Vaters auf. Der Petersburger Freund,
den der Vater plötzlich so gut kannte, ergriff ihn, wie noch nie.
Verloren im weiten Rußland sah er ihn. An der Türe des leeren,
ausgeraubten Geschäftes sah er ihn. Zwischen den Trümmern der
Regale, den zerfetzten Waren, den fallenden Gasarmen stand er gerade
noch. Warum hatte er so weit wegfahren müssen!
»Aber schau mich an!« rief der Vater,
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