Das Urteil | Page 5

Franz Kafka
und Georg lief, fast zerstreut,
zum Bett, um alles zu fassen, stockte aber in der Mitte des Weges.
»Weil sie die Röcke gehoben hat,« fing der Vater zu flöten an, »weil
sie die Röcke so gehoben hat, die widerliche Gans,« und er hob, um das
darzustellen, sein Hemd so hoch, daß man auf seinem Oberschenkel die
Narbe aus seinen Kriegsjahren sah, »weil sie die Röcke so und so und
so gehoben hat, hast du dich an sie herangemacht, und damit du an ihr
ohne Störung dich befriedigen kannst, hast du unserer Mutter
Andenken geschändet, den Freund verraten und deinen Vater ins Bett
gesteckt, damit er sich nicht rühren kann. Aber kann er sich rühren oder
nicht?«
Und er stand vollkommen frei und warf die Beine. Er strahlte vor
Einsicht.
Georg stand in einem Winkel, möglichst weit vom Vater. Vor einer
langen Weile hatte er sich fest entschlossen, alles vollkommen genau
zu beobachten, damit er nicht irgendwie auf Umwegen, von hinten her,
von oben herab überrascht werden könne. Jetzt erinnerte er sich wieder
an den längst vergessenen Entschluß und vergaß ihn, wie man einen
kurzen Faden durch ein Nadelöhr zieht.

»Aber der Freund ist nun doch nicht verraten!« rief der Vater, und sein
hin- und herbewegter Zeigefinger bekräftigte es. »Ich war sein
Vertreter hier am Ort.«
»Komödiant!« konnte sich Georg zu rufen nicht enthalten, erkannte
sofort den Schaden und biß, nur zu spät, -- die Augen erstarrt -- in seine
Zunge, daß er vor Schmerz einknickte.
»Ja, freilich habe ich Komödie gespielt! Komödie! Gutes Wort!
Welcher andere Trost blieb dem alten verwitweten Vater? Sag -- und
für den Augenblick der Antwort sei du noch mein lebender Sohn --,
was blieb mir übrig, in meinem Hinterzimmer, verfolgt vom
ungetreuen Personal, alt bis in die Knochen? Und mein Sohn ging im
Jubel durch die Welt, schloß Geschäfte ab, die ich vorbereitet hatte,
überpurzelte sich vor Vergnügen und ging vor seinem Vater mit dem
verschlossenen Gesicht eines Ehrenmannes davon! Glaubst du, ich
hätte dich nicht geliebt, ich, von dem du ausgingst?«
»Jetzt wird er sich vorbeugen,« dachte Georg, »wenn er fiele und
zerschmetterte!« Dieses Wort durchzischte seinen Kopf.
Der Vater beugte sich vor, fiel aber nicht. Da Georg sich nicht näherte,
wie er erwartet hatte, erhob er sich wieder.
»Bleib, wo du bist, ich brauche dich nicht! Du denkst, du hast noch die
Kraft, hierher zu kommen und hältst dich bloß zurück, weil du so willst.
Daß du dich nicht irrst! Ich bin noch immer der viel Stärkere. Allein
hätte ich vielleicht zurückweichen müssen, aber so hat mir die Mutter
ihre Kraft abgegeben, mit deinem Freund habe ich mich herrlich
verbunden, deine Kundschaft habe ich hier in der Tasche!«
»Sogar im Hemd hat er Taschen!« sagte sich Georg und glaubte, er
könne ihn mit dieser Bemerkung in der ganzen Welt unmöglich
machen. Nur einen Augenblick dachte er das, denn immerfort vergaß er
alles.
»Häng dich nur in deine Braut ein und komm mir entgegen! Ich fege
sie dir von der Seite weg, du weißt nicht wie!«

Georg machte Grimassen, als glaube er das nicht. Der Vater nickte bloß,
die Wahrheit dessen, was er sagte, beteuernd, in Georgs Ecke hin.
»Wie hast du mich doch heute unterhalten, als du kamst und fragtest,
ob du deinem Freund von der Verlobung schreiben sollst. Er weiß doch
alles, dummer Junge, er weiß doch alles! Ich schrieb ihm doch, weil du
vergessen hast, mir das Schreibzeug wegzunehmen. Darum kommt er
schon seit Jahren nicht, er weiß ja alles hundertmal besser als du selbst,
deine Briefe zerknüllt er ungelesen in der linken Hand, während er in
der Rechten meine Briefe zum Lesen sich vorhält!«
Seinen Arm schwang er vor Begeisterung über dem Kopf. »Er weiß
alles tausendmal besser!« rief er.
»Zehntausendmal!« sagte Georg, um den Vater zu verlachen, aber noch
in seinem Munde bekam das Wort einen toternsten Klang.
»Seit Jahren passe ich schon auf, daß du mit dieser Frage kämest!
Glaubst du, mich kümmert etwas anderes? Glaubst du, ich lese
Zeitungen? Da!« und er warf Georg ein Zeitungsblatt, das irgendwie
mit ins Bett getragen worden war, zu. Eine alte Zeitung, mit einem
Georg schon ganz unbekannten Namen.
»Wie lange hast du gezögert, ehe du reif geworden bist! Die Mutter
mußte sterben, sie konnte den Freudentag nicht erleben, der Freund
geht zugrunde in seinem Rußland, schon vor drei Jahren war er gelb
zum Wegwerfen, und ich, du siehst ja, wie es mit mir steht. Dafür hast
du doch Augen!«
»Du hast mir also aufgelauert!« rief Georg.
Mitleidig sagte der Vater nebenbei: »Das wolltest du wahrscheinlich
früher sagen. Jetzt paßt es ja gar nicht mehr.«
Und lauter: »Jetzt weißt du also, was es noch außer dir gab, bisher
wußtest du nur von dir! Ein unschuldiges Kind warst du ja eigentlich,
aber noch eigentlicher warst du ein teuflischer Mensch! -- Und darum
wisse: Ich
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