Das Urteil | Page 3

Franz Kafka
wenn nicht Georg, wie es am häufigsten geschah, mit
Freunden beisammen war oder jetzt seine Braut besuchte, noch ein
Weilchen, jeder mit seiner Zeitung, im gemeinsamen Wohnzimmer.
Georg staunte darüber, wie dunkel das Zimmer des Vaters selbst an
diesem sonnigen Vormittag war. Einen solchen Schatten warf also die
hohe Mauer, die sich jenseits des schmalen Hofes erhob. Der Vater saß
beim Fenster in einer Ecke, die mit verschiedenen Andenken an die
selige Mutter ausgeschmückt war, und las die Zeitung, die er seitlich
vor die Augen hielt, wodurch er irgendeine Augenschwäche
auszugleichen suchte. Auf dem Tisch standen die Reste des Frühstücks,
von dem nicht viel verzehrt zu sein schien.
»Ah, Georg!« sagte der Vater und ging ihm gleich entgegen. Sein
schwerer Schlafrock öffnete sich im Gehen, die Enden umflatterten ihn
-- »mein Vater ist noch immer ein Riese«, sagte sich Georg.
»Hier ist es ja unerträglich dunkel«, sagte er dann.
»Ja, dunkel ist es schon«, antwortete der Vater.
»Das Fenster hast du auch geschlossen?«

»Ich habe es lieber so.«
»Es ist ja ganz warm draußen«, sagte Georg, wie im Nachhang zu dem
Früheren, und setzte sich.
Der Vater räumte das Frühstücksgeschirr ab und stellte es auf einen
Kasten.
»Ich wollte dir eigentlich nur sagen,« fuhr Georg fort, der den
Bewegungen des alten Mannes ganz verloren folgte, »daß ich nun doch
nach Petersburg meine Verlobung angezeigt habe.« Er zog den Brief
ein wenig aus der Tasche und ließ ihn wieder zurückfallen.
»Nach Petersburg?« fragte der Vater.
»Meinem Freunde doch«, sagte Georg und suchte des Vaters Augen. --
»Im Geschäft ist er doch ganz anders,« dachte er, »wie er hier breit sitzt
und die Arme über der Brust kreuzt.«
»Ja. Deinem Freunde«, sagte der Vater mit Betonung.
»Du weißt doch, Vater, daß ich ihm meine Verlobung zuerst
verschweigen wollte. Aus Rücksichtnahme, aus keinem anderen
Grunde sonst. Du weißt selbst, er ist ein schwieriger Mensch. Ich sagte
mir, von anderer Seite kann er von meiner Verlobung wohl erfahren,
wenn das auch bei seiner einsamen Lebensweise kaum wahrscheinlich
ist -- das kann ich nicht hindern --, aber von mir selbst soll er es nun
einmal nicht erfahren.«
»Und jetzt hast du es dir wieder anders überlegt?« fragte der Vater,
legte die große Zeitung auf den Fensterbord und auf die Zeitung die
Brille, die er mit der Hand bedeckte.
»Ja, jetzt habe ich es mir wieder überlegt. Wenn er mein guter Freund
ist, sagte ich mir, dann ist meine glückliche Verlobung auch für ihn ein
Glück. Und deshalb habe ich nicht mehr gezögert, es ihm anzuzeigen.
Ehe ich jedoch den Brief einwarf, wollte ich es dir sagen.«

»Georg,« sagte der Vater und zog den zahnlosen Mund in die Breite,
»hör' einmal! Du bist wegen dieser Sache zu mir gekommen, um dich
mit mir zu beraten. Das ehrt dich ohne Zweifel. Aber es ist nichts, es ist
ärger als nichts, wenn du mir jetzt nicht die volle Wahrheit sagst. Ich
will nicht Dinge aufrühren, die nicht hierher gehören. Seit dem Tode
unserer teueren Mutter sind gewisse unschöne Dinge vorgegangen.
Vielleicht kommt auch für sie die Zeit und vielleicht kommt sie früher,
als wir denken. Im Geschäft entgeht mir manches, es wird mir
vielleicht nicht verborgen -- ich will jetzt gar nicht die Annahme
machen, daß es mir verborgen wird --, ich bin nicht mehr kräftig genug,
mein Gedächtnis läßt nach, ich habe nicht mehr den Blick für alle die
vielen Sachen. Das ist erstens der Ablauf der Natur, und zweitens hat
mich der Tod unseres Mütterchens viel mehr niedergeschlagen als dich.
-- Aber weil wir gerade bei dieser Sache halten, bei diesem Brief, so
bitte ich dich, Georg, täusche mich nicht. Es ist eine Kleinigkeit, es ist
nicht des Atems wert, also täusche mich nicht. Hast du wirklich diesen
Freund in Petersburg?«
Georg stand verlegen auf. »Lassen wir meine Freunde sein. Tausend
Freunde ersetzen mir nicht meinen Vater. Weißt du, was ich glaube?
Du schonst dich nicht genug. Aber das Alter verlangt seine Rechte. Du
bist mir im Geschäft unentbehrlich, das weißt du ja sehr genau, aber
wenn das Geschäft deine Gesundheit bedrohen sollte, sperre ich es
noch morgen für immer. Das geht nicht. Wir müssen da eine andere
Lebensweise für dich einführen. Aber von Grund aus. Du sitzt hier im
Dunkel, und im Wohnzimmer hättest du schönes Licht. Du nippst vom
Frühstück, statt dich ordentlich zu stärken. Du sitzt bei geschlossenem
Fenster, und die Luft würde dir so gut tun. Nein, mein Vater! Ich werde
den Arzt holen und seinen Vorschriften werden wir folgen. Die Zimmer
werden wir wechseln, du wirst ins Vorderzimmer ziehen, ich hierher.
Es wird keine Veränderung für dich sein, alles wird mit übertragen
werden. Aber das alles hat Zeit, jetzt lege dich noch ein wenig ins Bett,
du brauchst unbedingt Ruhe. Komm, ich werde dir beim Ausziehn
helfen, du wirst sehn, ich kann es.
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