Das Urteil | Page 2

Franz Kafka
sein Geschäft
mit größerer Entschlossenheit angepackt. Vielleicht hatte ihn der Vater
bei Lebzeiten der Mutter dadurch, daß er im Geschäft nur seine Ansicht
gelten lassen wollte, an einer wirklichen eigenen Tätigkeit gehindert,
vielleicht war der Vater seit dem Tode der Mutter, trotzdem er noch
immer im Geschäft arbeitete, zurückhaltender geworden, vielleicht
spielten -- was sogar sehr wahrscheinlich war -- glückliche Zufälle eine
weit wichtigere Rolle, jedenfalls aber hatte sich das Geschäft in diesen
zwei Jahren ganz unerwartet entwickelt, das Personal hatte man
verdoppeln müssen, der Umsatz hatte sich verfünffacht, ein weiterer
Fortschritt stand zweifellos bevor.
Der Freund aber hatte keine Ahnung von dieser Veränderung. Früher,
zum letztenmal vielleicht in jenem Beileidsbrief, hatte er Georg zur
Auswanderung nach Rußland überreden wollen und sich über die
Aussichten verbreitet, die gerade für Georgs Geschäftszweig in
Petersburg bestanden. Die Ziffern waren verschwindend gegenüber
dem Umfang, den Georgs Geschäft jetzt angenommen hatte. Georg
aber hatte keine Lust gehabt, dem Freund von seinen geschäftlichen
Erfolgen zu schreiben, und hätte er es jetzt nachträglich getan, es hätte
wirklich einen merkwürdigen Anschein gehabt.
So beschränkte sich Georg darauf, dem Freund immer nur über
bedeutungslose Vorfälle zu schreiben, wie sie sich, wenn man an einem
ruhigen Sonntag nachdenkt, in der Erinnerung ungeordnet aufhäufen.
Er wollte nichts anderes, als die Vorstellung ungestört lassen, die sich
der Freund von der Heimatstadt in der langen Zwischenzeit wohl
gemacht und mit welcher er sich abgefunden hatte. So geschah es
Georg, daß er dem Freund die Verlobung eines gleichgültigen
Menschen mit einem ebenso gleichgültigen Mädchen dreimal in
ziemlich weit auseinanderliegenden Briefen anzeigte, bis sich dann
allerdings der Freund, ganz gegen Georgs Absicht, für diese
Merkwürdigkeit zu interessieren begann.
Georg schrieb ihm aber solche Dinge viel lieber, als daß er zugestanden

hätte, daß er selbst vor einem Monat mit einem Fräulein Frieda
Brandenfeld, einem Mädchen aus wohlhabender Familie, sich verlobt
hatte. Oft sprach er mit seiner Braut über diesen Freund und das
besondere Korrespondenzverhältnis, in welchem er zu ihm stand. »Er
wird also gar nicht zu unserer Hochzeit kommen,« sagte sie, »und ich
habe doch das Recht, alle deine Freunde kennen zu lernen.« »Ich will
ihn nicht stören,« antwortete Georg, »verstehe mich recht, er würde
wahrscheinlich kommen, wenigstens glaube ich es, aber er würde sich
gezwungen und geschädigt fühlen, vielleicht mich beneiden und sicher
unzufrieden und unfähig, diese Unzufriedenheit jemals zu beseitigen,
allein wieder zurückfahren. Allein -- weißt du, was das ist?« »Ja, kann
er denn von unserer Heirat nicht auch auf andere Weise erfahren?«
»Das kann ich allerdings nicht verhindern, aber es ist bei seiner
Lebensweise unwahrscheinlich.« »Wenn du solche Freunde hast, Georg,
hättest du dich überhaupt nicht verloben sollen.« »Ja, das ist unser
beider Schuld; aber ich wollte es auch jetzt nicht anders haben.« Und
wenn sie dann, rasch atmend unter seinen Küssen, noch vorbrachte:
»Eigentlich kränkt es mich doch«, hielt er es wirklich für unverfänglich,
dem Freund alles zu schreiben. »So bin ich und so hat er mich
hinzunehmen«, sagte er sich, »ich kann nicht aus mir einen Menschen
herausschneiden, der vielleicht für die Freundschaft mit ihm geeigneter
wäre, als ich es bin.«
Und tatsächlich berichtete er seinem Freunde in dem langen Brief, den
er an diesem Sonntagvormittag schrieb, die erfolgte Verlobung mit
folgenden Worten: »Die beste Neuigkeit habe ich mir bis zum Schluß
aufgespart. Ich habe mich mit einem Fräulein Frieda Brandenfeld
verlobt, einem Mädchen aus einer wohlhabenden Familie, die sich hier
erst lange nach Deiner Abreise angesiedelt hat, die Du also kaum
kennen dürftest. Es wird sich noch Gelegenheit finden, Dir Näheres
über meine Braut mitzuteilen, heute genüge Dir, daß ich recht glücklich
bin und daß sich in unserem gegenseitigen Verhältnis nur insofern
etwas geändert hat, als Du jetzt in mir statt eines ganz gewöhnlichen
Freundes einen glücklichen Freund haben wirst. Außerdem bekommst
Du in meiner Braut, die Dich herzlich grüßen läßt, und die Dir
nächstens selbst schreiben wird, eine aufrichtige Freundin, was für
einen Junggesellen nicht ganz ohne Bedeutung ist. Ich weiß, es hält

Dich vielerlei von einem Besuche bei uns zurück, wäre aber nicht
gerade meine Hochzeit die richtige Gelegenheit, einmal alle
Hindernisse über den Haufen zu werfen? Aber wie dies auch sein mag,
handle ohne alle Rücksicht und nur nach Deiner Wohlmeinung.«
Mit diesem Brief in der Hand war Georg lange, das Gesicht dem
Fenster zugekehrt, an seinem Schreibtisch gesessen. Einem Bekannten,
der ihn im Vorübergehen von der Gasse aus gegrüßt hatte, hatte er
kaum mit einem abwesenden Lächeln geantwortet.
Endlich steckte er den Brief in die Tasche und ging aus seinem Zimmer
quer durch einen kleinen Gang in das Zimmer seines Vaters, in dem er
schon seit Monaten nicht gewesen war. Es bestand auch sonst keine
Nötigung dazu, denn er verkehrte mit seinem Vater ständig im Geschäft,
das Mittagessen nahmen sie gleichzeitig in einem Speisehaus ein,
abends versorgte sich zwar jeder nach Belieben, doch saßen sie dann
meistens,
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