Das Maerchen von dem Myrtenfraeulein | Page 4

Clemens Brentano
säuselte das Laub
um sie und sie erwachte, und siehe da! ein frisches junges Myrtenreis
lag neben ihr auf dem Kopfkissen und spielte mit seinen zarten im
Winde bewegten Blättern um ihre Wangen. Da weckte sie mit großen
Freuden ihren Mann, und zeigte es ihm, und sie dankten beide Gott auf
ihren Knien, daß er ihnen doch etwas Lebendiges geschenkt hatte, das
sie könnten grünen und blühen sehen. Sie pflanzten das Myrtenreis mit
der größten Sorgfalt in das schöne Gartengefäß, und es war täglich ihr
liebstes Geschäft, das junge Stämmchen zu begießen und in der Sonne
zu setzen und vor bösem Tau und rauhen Winden zu schützen. Der
Myrtenreis wuchs zusehends unter ihren Händen und duftete ihnen
Fried und Freud ins Herz.

Da kam einstens der Landesherr, Prinz Wetschwuth, in diese Gegend
mit einigen Gelehrten, um neue Porzellanerde zu entdecken; denn es
wurden in seiner Hauptstadt Porzellania so viele Häuser davon gebaut,
daß diese Erde in der Nähe der Stadt selten geworden war. Da er in die
Wohnung des Töpfers eintrat, ihn um seinen Rat zu fragen, ward er bei
dem Anblick des Myrtenbäumchens so durch dessen Schönheit
hingerissen, daß er alles andere vergaß und in lauter Verwunderung
ausrief: "O wie lieblich, wie reizend ist diese Myrte! Ihr Anblick hat für
mein Herz etwas ungemein Erquickendes, ich möchte immer in der
Nähe dieses Baumes leben--nein, ich kann ihn nicht entbehren, ich muß
ihn besitzen, und müßte ich ihn mit einem Auge erkaufen." Nach
diesem Ausruf fragte er sogleich den Töpfer und seine Frau, was sie für
die Myrte verlangten. Diese guten Leute erklärten auf die bescheidenste
Weise, daß sie den Baum nicht verkaufen wollten, und daß er das
Liebste sei, was sie auf Erden hätten. "Ach," sagte die Töpferin, "ich
könnte nicht leben, wenn ich meine Myrte nicht vor mir sähe; ja sie ist
mir so lieb und wert, als wäre sie mein Kind, und kein Königreich
nähme ich für diese meine Myrte." Da der Prinz Wetschwuth dies hörte,
ward er sehr traurig und begab sich nach seinem Schlosse zurück. Seine
Sehnsucht nach der Myrte ward so groß, daß er in eine Krankheit fiel
und das ganze Land um ihn bekümmert wurde. Da kamen Abgesandte
zu dem Töpfer und seiner Frau, und forderten sie auf, die Myrte dem
Prinzen zu überlassen, damit er nicht vor Sehnsucht sterben möchte.
Nach langen Unterhandlungen sagte die Frau: "Wenn er die Myrte
nicht hat, so muß er sterben, und wenn wir die Myrte nicht haben, so
können wir nicht leben; will der Prinz nun die Myrte haben, so muß er
uns auch mitnehmen, wir wollen sie ihm überbringen und ihn anflehen,
daß er uns als treue Diener in sein Schloß aufnehme, damit wir die
geliebte Myrte dann und wann sehen und uns an ihr erfreuen können."
Das waren die Abgesandten zufrieden, sie schickten gleich einen Reiter
in die Stadt mit der frohen Nachricht, die Myrte werde ankommen, der
Prinz sollte Mut fassen. Nun stellte der Töpfer das Gefäß mit der Myrte
auf eine Tragbahre, über welche die Frau ihre schönsten seidenen
Tücher gebreitet hatte, und sie trugen beide, nachdem sie ihre Hütte
verschlossen hatten, den geliebten Baum nach der Stadt, wohin sie von
den Abgesandten begleitet wurden. Von der Stadt kam ihnen der Prinz
selbst in einem Wagen entgegen und hatte ein goldenes Gießkännchen

in der Hand, womit er die geliebte Myrte begoß, bei deren Anblick er
sich sichtbar erholte. Vier weißgekleidete, mit Rosen geschmückte
Jungfrauen kamen mit einem rotseidenen Traghimmel, unter welchem
die Myrte nach dem Schloß getragen wurde. Kinder streuten Blumen,
und alles Volk war froh und warf die Mützen in die Höhe. Nur neun
Fräulein in der Stadt waren nicht bei der allgemeinen Freude zugegen,
denn sie wünschten, daß die Myrte verdorren möchte, weil der Prinz,
ehe er die Myrte gesehen hatte, sie oft besuchte und jede von ihnen
gehofft hatte, einst Beherrscherin der Stadt Porzellania zu werden. Seit
aber von der Myrte die Rede war, hatte er sich nicht mehr um sie
bekümmert; drum waren sie auf den unschuldigen Baum so erbittert,
daß sich an diesem Freudentage keine von ihnen erblicken ließ. Der
Prinz ließ die Myrte an das Fenster seiner Stube stellen und gab dem
Töpfer und seiner Frau eine Wohnung im Schloßgarten, aus deren
Fenster sie die Myrte immer erblicken konnten, womit die guten Leute
dann auch wohl zufrieden waren.
Der Prinz war bald wieder ganz gesund; er pflegte den Baum mit einer
unbeschreiblichen Liebe und Sorgfalt; auch wuchs dieser und breitete
sich aus zu aller Freude. Einstens setzte sich der Prinz abends neben
dem Baume auf sein Ruhebett. Alles war ruhig im Schloß, und er
entschlummerte in tiefen Gedanken. Da nun die Nacht alles bedeckt
hatte, hörte er ein wunderbares Säuseln in seinem Baum und erwachte
und lauschte; da vernahm er eine leise Bewegung in seiner Stube herum,
und
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