Das Maerchen von dem Myrtenfraeulein | Page 5

Clemens Brentano
ein süßer Duft breitete sich umher. Er war stille, stille und lauschte
immerfort; endlich, da es ihm wieder so wunderbar in der Myrte
säuselte, begann er zu singen:
Sag, warum dies süße Rauschen, Meine wunderschöne Myrte! O mein
Baum, für den ich so glühe?
Da sang eine liebliche leise Stime wider:
Dank will ich für Freundschaft tauschen Meinem wunderguten Wirte,
Meinem Herrn, für den ich blühe!
Da war der Prinz über die Stimme so entzückt, daß es nicht
auszusprechen ist; aber bald ward seine Freude noch viel größer, denn

er bemerkte, daß sich jemand auf den Schemel zu seinen Füßen setzte,
und da er die Hand darnach ausstreckte, ergriff eine zarte Hand die
seinige und führte sie an die Lippen eines Mundes, welcher sprach:
"Mein teurer Herr und Prinz! frage nicht, wer ich bin; erlaube mir nur
dann und wann in der Stille der Nacht zu deinen Füßen zu sitzen und
dir zu danken für die treue Pflege, welche du mir in der Myrte
bewiesen, denn ich bin die Bewohnerin dieser Myrte; aber mein Dank
für deine Zuneigung ist so gewachsen, daß er keinen Raum mehr in
diesem Baume hatte, und so hat es mir der Himmel vergönnt, in
menschlichen Gestalt dir manchmal nahezusein." Der Prinz war
entzückt über diese Worte und pries sich unendlich glücklich durch
dies Geschenk der Götter. Sie unterhielten sich einige Stunden, und sie
sprach so weise und klug, daß er vor Begierde brannte, sie von
Angesicht zu Angesicht zu sehen. Das Myrtenfräulein aber sagte zu
ihm: "Laß mich erst ein kleines Lied singen, dann kannst du mich
sehen", und sie sang:
Säusle, liebe Myrte! Wie still ists in der Welt, Der Mond, der
Sternenhirte Auf klarem Himmelsfeld, Treibt schon die Wolkenschafe
Zum Born des Lichtes hin, Schlaf, mein Freund, o schlafe, Bis ich
wieder bei dir bin.
Dazu säuselte die Myrte, und die Wolken trieben so langsam am
Himmel hin, und die Springbrunnen plätscherten so leise im Garten,
und der Gesang war so sanft, daß der Prinz einschlief, und als er kaum
nickte, erhob sich das Myrtenfräulein leise, leise vom Schemel und
begab sich wieder in die Myrte.
Als der Prinz am Morgen erwachte, erblickte er den Schemel leer zu
seinen Füßen, und er wußte nicht, ob das Myrtenfräulein wirklich bei
ihm gewesen war, oder ob er nur geträumt habe; aber da er das
Bäumchen ganz mit Blüten übersät sah, die in der Nacht aufgegangen
waren, ward er der Erscheinung immer gewisser. Nie ward die Nacht so
sehnsüchtig erwartet als von ihm; er setzte sich schon gegen Abend auf
sein Ruhebett und harrte. Endlich war die Sonne hinunter, es dämmerte,
es ward Nacht. Die Myrte säuselte, und das Myrtenfräulein saß zu
seinen Füßen und erzählte ihm so schöne Sachen, daß er nicht genug

zuhören konnte, und als er sie wieder bat, Licht anzünden zu dürfen,
sang sie ihm wieder ein Liedchen:
Säusle, liebe Myrte! Und träum im Sternenschein, Die Turteltaube
girrte Auch ihre Brust schon ein. Still ziehn die Wolkenschafe Zum
Born des Lichtes hin, Schlaf, mein Freund, o schlafe, Bis ich wieder bei
dir bin.
Da schlummerte der Prinz wieder ein und erwachte am Morgen wieder
mit der gleichen Überraschung und erwartete die Nacht wieder mit
gleicher Sehnsucht. Aber es ging ihm auch diesmal wie in der ersten
und zweiten Nacht, sie sang ihn immer in den Schlaf, wenn er sie zu
sehen verlangte. Sieben Nächte ging dies so fort, während welchen sie
ihm so vortreffliche Lehren über die Kunst zu regieren gab, daß seine
Begierde, sie zu sehen, nur noch größer ward. Er lies daher am andern
Tage an die Decke seiner Stube ein seidenes Netz befestigen, welches
er ganz leise niederlassen konnte, und so erwartete er die Nacht. Als
das Myrtenfräulein wieder zu seinen Füßen saß und ihm die
tiefsinnigsten Lehren über die Pflichten eines guten Fürsten gegeben
hatte, wollte sie ihm wieder das Schlaflied singen, aber er sprach zu ihr:
"Heute will ich einmal singen", und sie gab es nach vielen Bitten zu; da
sang er folgendes Liedchen:
Hörst du, wie die Brunnen rauschen? Hörst du, wie die Grille zirpt?
Stille, stille, laß uns lauschen, Selig, wer in Träumen stirbt; Selig, wen
die Wolken wiegen, Wem der Mond ein Schlaflied singt! O! wie selig
kann der fliegen, Dem der Traum den Flügel schwingt, Daß an blauer
Himmelsdecke Sterne er wie Blumen pflückt: Schlafe, träume, flieg,
ich wecke Bald dich auf und bin beglückt.
Und dies Lied wirkte so durch die sanfte Weise, in welcher er es sang,
daß das Myrtenfräulein zu den Füßen des Prinzen entschlummerte; da
ließ er das Netz nieder über sie und zündete seine Lampe an, und o
Himmel! was sah er? Die wunderschönste Jungfrau, welche jemals
gelebt, im Antlitz wie der klare Mond so mild und rein, Locken wie
Gold um die Stirne spielend und auf dem Haupt ein
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