Christiane F. - Wir Kinder vom Bahnhof Zoo | Page 8

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langsam: selber Macht über andere oder
unterdrückt werden. In der Schule fing ich bei dem schwäch-

sten Lehrer an. Ich rief ständig etwas in den Unterricht. Die
anderen lachten jetzt über mich. Als ich das auch bei den
strengeren Lehrern machte, da fand ich endlich echte Aner-
kennung bei meinen Mitschülern.
Ich hatte gelernt, wie man sich in Berlin durchsetzte: Immer
eine große Schnauze haben. Am besten die größte von allen.
Dann kannst du Boss spielen. Nachdem ich mit meiner Klappe
so erfolgreich war, wagte ich auch, meine Muskeln auszupro-
bieren. Eigentlich war ich nicht sehr stark. Aber ich konnte
wütend werden. Und dann habe ich auch die Stärkeren
umgehauen. Ich habe mich nachher beinahe gefreut, wenn mir
in der Schule einer blöd kam und ich ihn dann vor der Schule
wiedertraf. Ich mußte meistens gar nicht handgreiflich wer-
den. Die Kinder hatten einfach Respekt vor mir.
Ich war mittlerweile acht. Mein sehnlichster Wunsch war,
schnell älter zu werden, erwachsen zu sein wie mein Vater,
wirkliche Macht zu haben über andere Menschen. Was ich an
Macht hatte, probierte ich inzwischen aus.
Mein Vater hatte irgendwann Arbeit gefunden. Keine, die
ihn glücklich machte, aber eine, mit der er Geld für seine
Sausen und seinen Porsche verdiente. Ich war deshalb nach-
mittags allein mit meiner ein Jahr jüngeren Schwester zu
Haus. Ich hatte eine zwei Jahre ältere Freundin gefunden. Ich
war stolz, eine ältere Freundin zu haben. Mit ihr war ich noch
stärker.
Mit meiner kleinen Schwester spielten wir fast jeden Tag
das Spiel, das wir gelernt hatten. Wenn wir aus der Schule
kamen, suchten wir Zigarettenkippen aus Aschenbechern und
Mülleimern. Wir strichen sie glatt, klemmten sie zwischen die
Lippen und pafften. Wenn meine Schwester auch eine Kippe
haben wollte, bekam sie was auf die Finger. Wir befahlen ihr,
die Hausarbeit zu machen, also abwaschen, staubwischen und
was uns die Eltern noch so aufgetragen hatten. Dann nahmen
wir unsere Puppenwagen, schlössen die Wohnungstür hinter
uns ab und gingen spazieren. Wir schlössen meine Schwester
solange ein, bis sie die Arbeit gemacht hatte.
In dieser Zeit, als ich so acht, neun war, machte in Rudow
ein Ponyhof auf. Wir waren zuerst sehr sauer, denn für den
Ponyhof wurde so ziemlich das letzte Stück freie Natur, in das
wir mit unseren Hunden flüchten konnten, eingezäunt und

abgeholzt. Dann verstand ich mich mit den Leuten da aber
ganz gut und machte Stallarbeiten und Pferdepflege. Für die
Arbeit durfte ich ein paar Viertelstunden in der Woche frei
reiten. Das fand ich natürlich wahnsinnig.
Ich liebte die Pferde und den Esel, den sie da hatten. Aber
am Reiten faszinierte mich wohl noch etwas anderes. Ich
konnte wieder beweisen, daß ich Kraft und Macht hatte. Das
Pferd, das ich ritt, war stärker als ich. Aber ich konnte es unter
meinen Willen zwingen. Wenn ich runtergefallen bin, dann
mußte ich wieder rauf. Solange, bis mir das Pferd gehorchte.
Mit den Stallarbeiten klappte es nicht immer. Dann
brauchte ich Geld, um wenigstens eine Viertelstunde reiten zu
können. Taschengeld bekamen wir selten. Da habe ich
angefangen, ein bißchen zu betrügen. Ich habe die Rabattmar-
kenhefte eingelöst und die Bierflaschen von meinem Vater
weggebracht, um das Pfandgeld zu bekommen.
So mit zehn fing ich auch an zu klauen. Ich klaute in den
Supermärkten. Sachen, die wir sonst nicht bekamen. Vor
allem Süßigkeiten. Fast alle anderen Kinder durften Süßigkei-
ten essen. Mein Vater sagte, von Süßigkeiten bekäme man
schlechte Zähne.
Man lernte in Gropiusstadt einfach automatisch zu tun, was
verboten war. Verboten zum Beispiel war, irgend etwas zu
spielen, was Spaß machte. Es war überhaupt eigentlich alles
verboten. An jeder Ecke steht ein Schild in der Gropiusstadt.
Die sogenannten Parkanlagen zwischen den Hochhäusern, das
sind Schilderparks. Die meisten Schilder verbieten natürlich
Kindern irgend etwas.
Ich habe die Sprüche auf den Schildern später mal für mein
Tagebuch abgeschrieben. Das erste Schild stand schon an
unserer Eingangstür. Im Treppenhaus und in der Umgebung
unseres Hochhauses durften Kinder eigentlich nur auf Zehen-
spitzen rumschleichen. Spielen, toben, Rollschuh- oder Fahr-
radfahren - verboten. Dann kam Rasen und an jeder Ecke das
Schild: »Den Rasen nicht betreten.« Die Schilder standen vor
jedem bißchen Grün. Nicht einmal mit unseren Puppen
durften wir uns auf den Rasen setzen. Dann gab es da ein
mickriges Rosenbeet und wieder ein großes Schild davor:
»Geschützte Grünanlagen«. Unter diesem Hinweis war gleich

ein Paragraph aufgeführt, nach dem man bestraft wurde, wenn
man den mickrigen Rosen zu nahe kam.
Wir durften also nur auf den Spielplatz. Zu ein paar
Hochhäusern gehörte immer ein Spielplatz. Der bestand aus
verpißtem Sand und ein paar kaputten Klettergeräten und
natürlich einem Riesenschild. Das Schild steckte in einem
richtigen eisernen Kasten drin, unter Glas, und vor dem Glas
waren Gitter, damit wir den Quatsch nicht kaputtschmeißen
konnten. Auf dem Schild stand also »Spielplatzordnung« und
darunter, daß die Kinder ihn zur »Freude und Erholung
benutzen«
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