Casanovas Heimfahrt | Page 6

Arthur Schnitzler
- »Und werden Sie sich nun,« fragte Casanova,
»auch noch so lange gedulden, bis ich meine Kleider und mich selbst
ein wenig vom Staub der Landstraße gereinigt habe?« - »Gleich will
ich Ihnen Ihr Zimmer zeigen,« sagte Olivo, »und hoffe, Chevalier, Sie

werden zufrieden sein, beinahe so zufrieden ...« er zwinkerte und fügte
leise hinzu: »wie in Ihrem Gasthof zu Mantua, wenn es auch an
mancherlei fehlen dürfte.« Er ging voraus, die Stiege zur Galerie hinauf,
die sich rings um die Halle im Viereck zog, und von deren äußerstem
Winkel eine schmale Holztreppe sich nach oben wand. In der Höhe
angelangt, öffnete Olivo die Türe zum Turmgemach und, an der
Schwelle stehenbleibend, wies er es Casanova mit vielen
Komplimenten als bescheidenes Fremdenzimmer an. Eine Magd
brachte den Mantelsack nach, entfernte sich mit Olivo, und Casanova
stand allein in einem mäßigen, mit allem Notwendigen ausgestatteten,
doch ziemlich kahlen Raum, durch dessen vier schmale hohe
Bogenfenster sich ein weiter Blick nach allen Seiten auf die
sonnbeglänzte Ebene mit grünen Weingeländen, bunten Fluren, gelben
Feldern, weißen Straßen, hellen Häusern und dunklen Gärtchen darbot.
Casanova kümmerte sich nicht weiter um die Aussicht und machte sich
rasch fertig, nicht so sehr aus Hunger, als aus einer quälenden Neugier,
Marcolina so bald als möglich von Angesicht zu Angesicht zu sehen; er
wechselte nicht einmal das Gewand, weil er erst am Abend glänzender
aufzutreten gedachte.
Als er das im Erdgeschoß gelegene holzgetäfelte Speisezimmer betrat,
sah er um den wohlbestellten Tisch außer dem Ehepaar und den drei
Töchtern ein in mattschimmerndes, einfach herunterfließendes Grau
gekleidetes Mädchen von zierlicher Gestalt sitzen, das ihn mit so
unbefangenem Blick betrachtete, als wäre er jemand, der zum Hause
gehörte oder doch schon hundertmal hier zu Gast gewesen. Daß sich in
ihrem Blick nichts von jenem Leuchten zeigte, wie es ihn früher so oft
begrüßt, auch wenn er als Nichtgekannter im berückenden Glanz seiner
Jugend oder in der gefährlichen Schönheit seiner Mannesjahre
erschienen war, das mußte Casanova freilich als eine längst nicht mehr
neue Erfahrung hinnehmen. Aber auch in der letzten Zeit noch genügte
meist die Nennung seines Namens, um auf Frauenlippen den Ausdruck
einer verspäteten Bewunderung oder doch wenigstens ein leises Zucken
des Bedauerns hervorzurufen, das gestand, wie gern man ihm ein paar
Jahre früher begegnet wäre. Doch als ihn jetzt Olivo seiner Nichte als
Herrn Casanova, Chevalier von Seingalt vorstellte, lächelte sie nicht
anders, als wenn man ihr irgendeinen gleichgültigen Namen genannt

hätte, in dem kein Klang von Abenteuern und Geheimnissen verzitterte.
Und selbst als er neben ihr Platz nahm, ihr die Hand küßte, und aus
seinen Augen ein Funkenregen von Entzücken und Begier über sie
niederging, verriet ihre Miene nichts von der leisen Befriedigung, die
doch als bescheidene Antwort auf eine so glühende Huldigung zu
erwarten gewesen wäre.
Nach wenigen höflich einleitenden Worten ließ Casanova seine
Nachbarin merken, daß er von ihren gelehrten Bestrebungen in
Kenntnis gesetzt sei, und fragte sie, mit welcher Wissenschaft sie sich
denn besonders abgebe? Sie erwiderte, daß sie vor allem das Studium
der höhern Mathematik betreibe, in das sie durch Professor Morgagni,
den berühmten Lehrer an der Universität von Bologna, eingeführt
worden sei. Casanova äußerte seine Verwunderung über ein solches bei
anmutigen jungen Mädchen wahrlich ungewöhnliches Interesse an
einem so schwierigen und dabei nüchternen Gegenstand, erhielt aber
von Marcolina die Antwort, daß ihrer Ansicht nach die höhere
Mathematik die phantastischeste, ja man könnte sagen, unter allen
Wissenschaften die ihrer Natur nach wahrhaft göttliche vorstelle. Als
Casanova sich über diese ihm ganz neue Auffassung eine nähere
Erklärung erbitten wollte, wehrte Marcolina bescheiden ab und äußerte,
daß es den Anwesenden, vor allem aber ihrem lieben Oheim, viel
erwünschter sein dürfte, Näheres von den Erlebnissen eines
vielgereisten Freundes zu erfahren, den er so lange nicht gesehn, als
einem philosophischen Gespräch zuzuhören. Amalia schloß sich ihrer
Anregung lebhaft an, und Casanova, immer gern bereit, Wünschen
solcher Art nachzugeben, bemerkte leichthin, daß er in den letzten
Jahren sich vorzüglich auf geheimen diplomatischen Sendungen
befunden, die ihn, um nur die größern Städte zu nennen, zwischen
Madrid, Paris, London, Amsterdam und Petersburg umhergetrieben. Er
berichtete von Begegnungen und Unterhaltungen ernster und heitrer
Art mit Männern und Frauen der verschiedensten Stände, auch des
freundlichen Empfangs zu erwähnen vergaß er nicht, der ihm am Hof
der Katharina von Rußland zuteil geworden, und sehr spaßhaft erzählte
er, wie Friedrich der Große ihn beinahe zum Erzieher an einer
Kadettenschule für pommersche Junker gemacht hatte; - eine Gefahr,
der er sich allerdings durch rasche Flucht entzogen. Von all dem und

manchem andern sprach er, als hätte es sich in einer eben erst
verflossenen Zeit zugetragen und läge nicht in Wirklichkeit Jahre und
Jahrzehnte zurück; mancherlei erfand er dazu, ohne sich seiner größern
und kleinern Lügen selber recht bewußt zu werden, freute sich seiner
eignen Laune wie der Teilnahme, mit der man ihm lauschte; und
während er so erzählte und phantasierte,
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