Cannes und Genua | Page 8

Walther Rathenau
auf der einen Seite ist
ein gewaltiges Geldbedürfnis bei den empfangsberechtigten Staaten,
auf der anderen Seite ist die Zahlungskraft Deutschlands, insbesondere
in Barmitteln, eine begrenzte. Die Erkenntnis ist wohl heute so

ziemlich in der ganzen Welt verbreitet, dass ein Volk dem andern nur
dauernd zahlen kann aus dem Ueberschuss seiner Zahlungs- und
Handelsbilanz. Unsere Zahlungsbilanz ist schwer passiv, unsere
Handelsbilanz ist in den letzten Monaten um eine Kleinigkeit aktiv
geworden. Zahlungsmittel in bar sind somit nur in beschränktem Masse
aufzubringen. Es kann daher für 1922 und 1923 wahrscheinlich nur ein
Provisorium gefunden werden, das auch nicht entfernt den Wünschen
extremistischer Gegenseiter entspricht, die im Anfang des vorigen
Jahres noch die öffentliche Meinung beherrschten. Wir sehen heute
einen erkennbaren Massstab für Barleistungen in der Tatsache, dass,
sobald diese Leistungen eine bestimmte Menge überschreiten, die
Wechselkurse gegenüber Deutschland ins Schwanken, in lebhafte
Bewegung kommen. Die Dekadenzahlung von 31 Millionen, die als
Vorprovisorium für die ersten Monate dieses Jahres uns zugemutet
worden ist, von der ich in Cannes den Beteiligten gesagt habe, dass sie
nur auf wenige Wochen beschränkt sein dürfe, hat bereits den
Wechselkurs gegen Deutschland in starkem Masse zu unseren
Ungunsten beeinflusst. Man darf sagen, dass die deutsche
Leistungsfähigkeit in Barzahlung direkt ihr Mass findet in der
Bewertung des Dollars an der Berliner Börse. Ich habe die Mitglieder
der Reparationskommission, die sich vor einiger Zeit in Berlin
aufhielten, darauf aufmerksam gemacht, wie unbedingt nötig es sei,
schon jetzt, gleichviel ob die Regelung für das Jahr 1922 sich noch
etwas hinzieht, die Dekadenzahlungen zu verringern, um den
Dollarkurs nicht weiter in Bewegung zu setzen. Denn was es bedeutet,
wenn die deutsche Währung ihren scharfen Rückgang fortsetzt, das
wissen wir alle. Wir wissen, dass damit das Budget ins Wanken kommt,
dass alle Lasten sich erhöhen, dass alle Lohn- und Gehaltsbemessungen
von neuem in Frage gestellt werden, dass die ganze Kette der
Bewertungen im Lande sich in Bewegung setzt. Es ist möglich, dass an
den letzten Dollarbewegungen bis zu einem gewissen Grade
Spekulation beteiligt war. Wir dürfen nicht vergessen, dass grosse
Mengen deutschen Geldes im Besitz des Auslandes sind, und die
Gefahr ist gross, dass, wenn eine starke Bewegung in unseren Valuten
stattfindet, das Ausland erhebliche Beträge seiner Markbestände auf
den Markt bringt. Ich hoffe nicht, dass gleiches spekulativ von
deutscher Seite geschieht. Denn wenn man sich vorstellt, dass von

deutscher Seite spekulative Käufe in fremden Devisen stattfänden, so
wäre es das traurigste Phänomen, das man sich denken kann. Wir
müssen im Auge behalten, dass jeder Deutsche, der spekulativ fremde
Valuten kauft, auf nichts anderes als das Unglück unseres Landes
spekuliert. Diese Kenntnis sollte sich soweit nur irgendmöglich
verbreiten. Ich hoffe, dass Deutsche an der spekulativen Bewegung
unserer Währung nicht beteiligt sind.
Wenn wir also für das Jahr 1922 und vielleicht auch für das Jahr 1923
nur zu provisorischen Regelungen kommen, so muss dafür gesorgt
werden, dass einmal die endgültige Regelung eintritt. Und sie kann nur
dann eintreten, wenn der grosse Kreis der wechselseitigen
Verschuldung in Europa sich lockert. Denn wir dürfen nicht vergessen,
dass das Reparationsproblem nur ein Teilproblem innerhalb des
allgemeinen Weltverschuldungskreises bedeutet. Die Weltverschuldung
umfasst Europa und Amerika gemeinschaftlich. Die europäischen
Staaten fast sämtlich schulden direkt oder indirekt an Amerika, sie
schulden ausserdem untereinander. Die meisten sind Gläubiger und
Schuldner zugleich; diejenigen, die ausschliesslich Schuldner sind, sind
wir. Schwerlich wird sich das Reparationsproblem aus dem
allgemeinen Weltverschuldungsproblem herauslösen lassen. Dieses
Weltverschuldungsproblem wird aber Gegenstand der Erörterungen in
der Politik aller Länder während der nächsten Jahre sein müssen.
Gelingt es, dieses Problem -- und es wird nur gelingen unter dem
Hinzutritt von Amerika -- einer erträglichen Lösung zuzuführen, so ist
damit auch die Lösung der deutschen Reparation ermöglicht.
In diesem Falle muss nämlich der Versuch gemacht werden, mit Hilfe
aller europäischen und aussereuropäischen Kapitalstaaten eine grosse
Anleihe zu Lasten Deutschlands aufzunehmen, sie den
Empfangsberechtigten zu übergeben und damit das
Reparationsproblem endgültig zu beseitigen. Ob unter den heutigen
Verhältnissen Kapitalaufnahmen seitens Deutschlands in erheblichem
Masse möglich sind, ist zu bezweifeln, denn der Versailler Vertrag
steht der Kreditgewährung an Deutschland entgegen. Darüber hat sich
niemand deutlicher ausgesprochen als der Leiter der Bank von England.
In dem gleichen Masse, wie die Erkenntnis des

Gesamtverschuldungsproblems in den Mittelpunkt des öffentlichen und
des Weltinteresses tritt, wird man den Versuch machen müssen, der
Kreditwürdigkeit Deutschlands zu helfen und dadurch eine
Finanzoperation zu ermöglichen, die von ausserordentlich grossem
Umfange sein kann und sein muss, um das grosse Problem zu lösen.
Schon aus dem Grunde möchte ich wünschen, dass das
Reparationsproblem seine Beendigung durch eine grosse Weltanleihe
fände, weil ich der Meinung bin, dass der Zustand auf die Dauer
schwer aufrechtzuerhalten ist, dass ein Volk Zahlungen direkt an einen
oder mehrere seiner Nachbarn leistet. Die Anonymisierung der Schuld
wird die Schuld erleichtern und wird sie dauernd tragbarer machen. Die
Schuld an Nachbarn nimmt die Form eines Tributes an, und ein solcher
Tribut ist
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