Cannes und Genua | Page 9

Walther Rathenau
nicht diejenige Form, unter der sich der Weltfrieden am
besten konsolidiert.
Ich habe von den Aussichten Genuas gesprochen und darauf
hingewiesen, dass auf der einen Seite vielleicht eine Enttäuschung für
diejenigen entsteht, die von Genua die endgültige Regelung der
Reparationsfrage erhoffen, dass aber auf der anderen Seite doch für uns
die Erwartung besteht, dass Genua einen Markstein in der allgemeinen
Entwicklung zum Weltfrieden darstellen wird. In hohem Masse wird
das Ergebnis von Genua davon abhängen, welche Stellung Amerika
entschlossen ist, zu dem Reparationsproblem, zum Friedensproblem
überhaupt einzunehmen.
Amerikas Macht ist durch den Krieg gewaltiger gewachsen als die
irgendeines anderen Landes. Der Eingriff Amerikas in das Schicksal
der Welt ist keinem anderen Eingriff zu vergleichen, der seit
Jahrhunderten in das Leben der Völker stattgefunden hat. Durch sein
Eintreten in den Krieg hat Amerika den Krieg entschieden, durch sein
Eintreten in den Friedenskongress hat Amerika den Frieden
entschieden und durch seinen Eintritt in die Weltprobleme der
Verschuldung und der Sanierung wird Amerika in der Lage sein, die
Weltentwicklung in wirtschaftlicher und friedenbringender Richtung zu
entscheiden.
Vielfach hat man bei uns die Vorstellung, Amerika sei ein Land, das

lediglich seinen grossen materiellen Aufgaben lebt, von der Natur
begünstigt und in grossartiger Isolation. Ich glaube, dass wenig Länder
so entschieden durch Erwägungen ideeller Art zu bewegen sind wie
Amerika. Ich glaube, dass die Motive, die Amerika zum Krieg und zur
Friedensschliessung getrieben haben, nicht so sehr auf materiellen
Wünschen beruhten, wie auf der Ueberzeugung einer Verantwortung,
und ich glaube deshalb, dass Amerika sich nicht derjenigen
Verantwortung entziehen wird, die ihm durch sein entscheidendes
Eingreifen in die europäischen Schicksale erwachsen ist. Ich weiss,
dass in Amerika eine starke Tendenz besteht, die dahin gerichtet ist, zu
sagen, Europa ist weit entfernt, mit den Händeln dieses alten
Kontinents wollen wir nichts zu tun haben. Es ist durchaus verständlich,
wenn eine solche Auffassung gehegt wird. Aber ich glaube, in Amerika
werden Gegenkräfte wach und stark sein, die die Auffassung vertreten,
Europa darf nicht zugrunde gehen, die Quellen der ältesten und
stärksten Zivilisation dürfen nicht erschüttert werden. Es darf nicht
vergessen werden, dass derjenige, der den Krieg bestimmt hat und den
Frieden bestimmt hat, nun auch für das Wohlergehen derjenigen Völker,
deren Schicksal bestimmt wurde, eine Verantwortung trägt. Ich glaube
auch, dass diejenige Auffassung in Amerika, die sagt, wir sind
materiell am Geschick Europas so gut wie uninteressiert, nicht das
Richtige trifft.
Ich habe von Amerika her Stimmen vernommen, die behaupteten, der
ganze Aussenhandel Amerikas nach Europa bedeute ausserordentlich
wenig, er bedeute, sagten die einen 4 Prozent, die anderen 7 Prozent der
amerikanischen Produktion. Ich glaube, dass diese Zahl in Amerika
sehr ernstlich der Nachprüfung bedarf und dass sie auch eine
Nachprüfung finden wird. Wäre tatsächlich die Produktion Amerikas
15 mal grösser gewesen als seine Weltausfuhr, so wäre diese
Produktion so gewaltig, dass sie sich mit der Arbeiterzahl, über die
Amerika verfügt, nicht entfernt hätte leisten lassen. Der Anteil der
Ausfuhr an amerikanischer Produktion ist tatsächlich erheblich grösser,
und Amerika wird auch in materiellem Sinne erkennen, dass es
wünschenswert ist, einen so starken Konsumenten, wie es Europa ist,
gesund zu erhalten. Es besteht somit die Hoffnung, dass auf
amerikanischer Seite ideelle und materielle Momente zusammenwirken

werden, um die gewaltige Kraft dieses Landes den europäischen
Schicksalen wieder zuzuwenden, die von ihr abhängen. Gleichviel, ob
Amerika sich entschliesst, sich an Genua zu beteiligen oder nicht,
glaube und hoffe ich, dass Europa nicht ganz allein auf sich selbst in
der Regelung seiner überaus schwierigen Verschuldungsverhältnisse
und in der Ordnung, in der Wiederherstellung seiner tief erkrankten
wirtschaftlichen Gliederung angewiesen sein wird.
Wenn wir in einigen Wochen nach Genua gehen werden, so werden wir
es nach eingehender Vorbereitung aller derjenigen Probleme tun, die
Deutschland beherrschen, und vor allem derjenigen, die auf das
Schicksal Europas einen wirtschaftlichen Einfluss ausüben. Ich glaube,
dass es uns möglich sein wird, dort einen Boden zu finden, der für die
Erörterung wirtschaftlicher Grundfragen vorbereitet ist, und hoffe, dass
die Anbahnung eines künftigen wirklichen Friedenszustandes gelingt.
Wir leben freilich nicht mehr im Kriege, aber wir leben noch immer
weit entfernt vom wirklichen Frieden. Noch immer leben die Völker in
dauernder, sich verstärkender wirtschaftlicher Abschliessung, noch
immer leidet Deutschland unter einseitiger Behandlung, noch immer
leben wir unter der Regie von Noten, die unser politisches Leben
erschweren und beunruhigen, noch immer ist im Osten schlesisches
Land besetzt und im Westen die Städte, die unter dem Namen von
Sanktionen okkupiert worden sind. Das ist noch nicht der wahre Friede
der Welt, das ist noch nicht der wahre Friede Deutschlands! Ich habe
die Hoffnung und den Glauben, dass dieser wahre Frieden der Welt
herannaht. Die Aufgabe unserer Politik ist, mit allen Mitteln daran zu
arbeiten, dem Frieden näher zu kommen, Vertrauen im Kreise der
Völker zu erwerben und zu erhalten, aber auch gleichzeitig unsere
Rechte zu wahren. In diesem Sinne gedenken wir die Fahrt nach Genua
anzutreten,
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