Cannes und Genua | Page 7

Walther Rathenau
bis
zu ihrem letzten Ende geführt worden. Sie wurde vorzeitig
abgebrochen, durch innerpolitische französische Verhältnisse, durch
die Amtsniederlegung des französischen Ministerpräsidenten. Wir
können nicht sagen, dass Cannes eine endgültige Regelung im Sinne
einer gesamten Ordnung der Zukunft uns gegeben hätte. Wir können
aber auch nicht sagen, dass das Ergebnis von Cannes ein negatives
gewesen sei. Es ist möglich geworden, durch die Verhandlungen, die
dort und zuvor in London stattgefunden haben, ein Abkommen zu
präliminieren, wenigstens für das Jahr 1922, das heute noch nicht ganz
geregelt ist, aber das vermutlich in den nächsten Wochen seine
Regelung finden wird. Es ist möglich geworden, in Cannes, den
Vertretern der früher uns gegnerischen Nationen die gesamte deutsche
Situation darzulegen, und zwar in grösserer Ausführlichkeit und
Klarheit, als wir es vermocht hätten, wenn wir lediglich uns auf den
negativen Standpunkt der Ablehnung jedes Erfüllungsversuches gestellt
hätten. Es ist ferner in Cannes dazu gekommen, dass eine Konferenz
aller Nationen für Genua in Aussicht genommen wurde, die nach

wechselnden Schicksalen nun doch wahrscheinlich im April stattfinden
soll. Auf der einen Seite ist der Reflex in der deutschen Oeffentlichkeit
der gewesen, als Cannes beendet war, dass von Genua sehr wenig zu
erwarten sei, dass die Ergebnisse völlig unbefriedigende seien, dass die
Regierung dort nicht nur keinen Erfolg, sondern eigentlich, genau
betrachtet, eine schwere Niederlage erlitten habe. Im merkwürdigen
Kontrast dazu stand es, dass gerade von denselben Stellen, die in Genua
eine vollkommene Gleichgültigkeit erblickten, in dem Augenblick, als
die Boulogner Beschlüsse stattfanden, erklärt wurde, dass nun die letzte
Hoffnung geschwunden sei, die wir in Deutschland hätten aufleuchten
sehen. In einem der beiden Fälle müssen die Kritiker sich geirrt haben,
entweder war in Cannes doch etwas erreicht worden oder der Verlust,
der angeblich in Boulogne erlitten worden sein soll, konnte kein so
überaus schwerer sein.
Ich glaube, dass tatsächlich ein doppelter Irrtum vorlag. Auf der einen
Seite wurde die Genueser Konferenz unterschätzt in dem Augenblick,
als sie auftrat, auf der anderen Seite wurden die Boulogner Beschlüsse
überschätzt in dem Augenblick, als sie zur Wirklichkeit wurden.
Diejenigen, die der Entwicklung näher standen, haben niemals daran
gezweifelt, dass Genua nicht die Stelle sein konnte, an der von einem
Gremium aus mehr als 40 Nationen, von denen ein grosser Teil weder
Unterzeichner von Versailles noch Kriegsbeteiligte waren, dass von
diesen Nationen Beschlüsse nicht gefasst werden konnten über die
Versailler Grundlagen oder über die Grundlagen der Reparationen.
Boulogne hat die Bestätigung dafür erbracht, dass das
Reparationsproblem und der Versailler Vertrag diesem Gremium zur
Beschlussfassung nicht unterliegen kann. Eine Ueberschätzung von
Genua kann indessen darin liegen, dass man erwartet, es könne von
dort aus sofort eine neue Regelung der europäischen Verhältnisse
ausgehen. Ich halte es für bedenklich, zu glauben, dass eine
Gemeinschaft von 40 Nationen mit Vertretern, deren Zahl in die
Hunderte geht, eine aktive Politik führen kann, die mit einem Schlage
uns in eine neue politische Weltkonstellation führt, den Vertrag
abändert und die Reparationen auf ein normales Mass zurückführt.
Wohl aber wird die Möglichkeit vorhanden sein, dass in Genua die
allgemeinen Ursachen der Welterkrankung erörtert werden, und dass

die Nationen gemeinschaftlich nach solchen Wegen suchen, die zu
einer Gesundung des ganzen Kontinents führten. Genua wird
voraussichtlich das erste Glied einer Serie von Konferenzen sein, die
vermutlich dieses und das nächste Jahr in Anspruch nehmen werden.
Einen anderen Weg als den Weg der Konferenzen gibt es unter den
heutigen Verhältnissen leider nicht. Begegnung der Staatsmänner findet
statt auf Seiten der Entente; dort ist die Möglichkeit der Aussprache
kontinuierlich gegeben. Für uns aber, die wir nicht in gleichem Masse
in Verbindung stehen mit unseren Nachbarvölkern, ist eine Konferenz
schon deswegen von Wichtigkeit, weil sie uns die Möglichkeit
mündlicher Aussprache, persönlichen Kontaktes gibt, der unter allen
Umständen vorzuziehen ist dem Wege der Noten und der
diplomatischen Verhandlungen.
Wer also der Auffassung ist, dass von Genua eine neue Aera des
Geschehens ausgehen wird, der, fürchte ich, wird eine Enttäuschung
erleben. Ich habe den Eindruck, dass in wirtschaftlichen Kreisen trotz
aller Enttäuschung über Boulogne ein solcher Optimismus besteht, und
ich würde nicht wünschen, dass er sich befestigt. Wer aber der
Meinung ist, dass von dem gegenwärtigen schwerkranken Zustand des
gesamten europäischen und Weltwirtschaftskörpers ein Weg gefunden
werden muss zu einer Gesundung, und wer der Meinung ist, dass dieser
Weg nur durch gemeinschaftliche Aussprachen erreicht werden kann,
dass dieser Weg zwar lang, aber unter allen Umständen beschreitbar ist,
der wird, glaube ich, in Genua dasjenige finden, was er sucht.
Was die Entwicklung der Reparationen selbst betrifft, so wird ihr
Gremium voraussichtlich bis auf weiteres die Reparationskommission
bleiben, und hinter der Reparationskommission diejenigen Mächte, die
in erster Linie die Empfangsberechtigten sind. Ich glaube, dass die
Entwicklung des Reparationsproblems folgenden Gang nehmen wird:
man wird für das Jahr 1922, auch wohl für das Jahr 1923 zu Lösungen
zu kommen suchen, die zunächst nur provisorische Lösungen sein
werden. Sie können nur provisorisch sein, denn
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