Cannes und Genua | Page 6

Walther Rathenau
Volk in Not
geraten lassen dürfe. Dieses »dürfe« unterstreiche ich, denn darin war
die sittliche Verpflichtung enthalten, nur bis zu dem Punkte zu gehen,
den der Staatsmann verantworten kann. Diesem Grundsatz ist die
Regierung treu geblieben. Es hat sich im Laufe des Jahres dann auch
gezeigt, dass die Fragestellung »Möglichkeit oder Unmöglichkeit« der
Erfüllung überhaupt nicht diejenige geworden ist, die die Mentalität der
übrigen Länder ausschliesslich beschäftigt hat. In kurzer Zeit hat sich
ergeben, dass eine weitere Frage hervortrat, nämlich die: wie weit eine
Reparationsleistung Deutschlands überhaupt für die übrigen Völker
erträglich sei, denn die volkswirtschaftliche Verknüpfung der Länder
führte dazu, zu erkennen, dass die Zwangsarbeit eines Landes, auf den
Weltmarkt gebracht, nur dazu führen kann, den gesamten Markt der
Erde zu zerrütten, und damit, wenn auch auf einer Seite Zahlungen
erlangt werden, Nachteile für andere Länder zu schaffen, die so
erheblich sind, dass sie z. B. in England allein zu einer Arbeitslosigkeit
von 2 Millionen Menschen führten. Psychologisch also hat sich das
Vorgehen der Regierung als richtig erwiesen. Es war vermieden
worden, eine fruchtlose Diskussion auf den Grad einer theoretischen
Möglichkeit zu beschränken. Es war die Möglichkeit dadurch
geschaffen, lediglich die Tatsachen sprechen zu lassen; und die Sprache
der Tatsachen ist so stark gewesen, dass heute fast in allen Ländern
übereinstimmend die Auffassung herrscht, dass das
Reparationsproblem von neuem studiert werden muss. Es ist kein Tag
vergangen, an dem das Studium des Reparationsproblems in der Welt
geruht hätte. In energischer Weise ist die englische Auffassung für
erneute Prüfung eingetreten, die Reparationskommission hat sich der
Frage angenommen, und gerade in diesem Momente schweben die
Verhandlungen darüber, auf welches Mass die Reparationen für das
Jahr 1922 begrenzt werden sollen.
Mit dieser allgemeinen Auffassung der Regierung im Zusammenhang
stand die praktische Politik, die sie im Laufe des Jahres verfolgt, und
deren erste Etappe nach Wiesbaden führte.
Die Aufgabe von Wiesbaden war eine doppelte. Es handelte sich
zunächst darum, überhaupt die Möglichkeit zu finden, wie erhebliche

Zahlungen von einem Lande an ein anderes geleistet werden könnten;
denn es war evident, dass es nicht möglich war, Goldleistungen von
Deutschland ins Ausland zu führen, soweit nicht eine erhebliche
Aktivität der Handelsbilanz vorhanden gewesen wäre, und diese war
nicht vorhanden. Es handelte sich also darum, Modalitäten zu finden,
um überhaupt dem Reparationsproblem eine Unterlage der
Durchführbarkeit zu geben. Der Begriff der Sachleistungen trat in den
Vordergrund. Es wurde versucht, zunächst mit Frankreich ein
Abkommen der Sachleistungen zu schliessen und dieses Abkommen so
einzurichten, dass der Strom an Gütern, der zu erwarten stand, in erster
Linie dem Wiederaufbaugebiet zugeführt würde.
Daneben aber lag die zweite politische Aufgabe mit grösserer
Wichtigkeit. Die Anknüpfung der Reparationsbeziehungen zur übrigen
Welt war überhaupt nur denkbar, wenn zunächst diejenigen Gebiete
berücksichtigt wurden, die am schwersten unter den Zerstörungen des
Krieges gelitten hatten. Es ist eine europäische Notwendigkeit, dass die
zerstörten Gebiete Frankreichs wieder aufgebaut werden. Solange sie
als Wüsteneien zwischen Deutschland und Frankreich liegen, bleiben
sie ein Symbol der Spaltung zwischen den Völkern. Immer wieder wird
den Bewohnern dieser Gebiete Bitterkeit ins Gemüt geführt, und die
Länder der Erde sehen in den zerstörten Gebieten das Wahrzeichen
eines noch nicht wiederhergestellten Friedens. Ich halte es für dringend
nötig, dass der Wiederaufbau der zerstörten französischen Gebiete
sobald als möglich erfolgt, und ich glaube, dass das Zentralproblem der
ganzen Reparationen darin liegt, dass Deutschland sein möglichstes tut,
um diese Gebiete wiederherzustellen.
Die beiden Aufgaben wurden in Wiesbaden gestellt und gelöst. Es
wurde ein Abkommen zwischen Deutschland und Frankreich
hergestellt, das auch auf andere Staaten seine Anwendung finden
konnte. Leider ist das Ergebnis von Wiesbaden zwar nicht, wie es
wünschenswert gewesen wäre, ein Friedenswerk nach aussen und innen
gewesen. Nach aussen mehr als nach innen. Im Innern entfaltete sich
eine heftige Agitation und Kontroverse gerade gegen die
Sachleistungen. Mit wechselnden Argumenten ging man vor. Man
behauptete, dass das Wiesbadener Abkommen das deutsche Volk

zugrunde richtete, man behauptete, wir hätten damit Frankreich eine
Option auf unsere Konjunktur gegeben. Man behauptete, wir wären
weit über unsere Verpflichtungen von Versailles hinausgegangen. Jede
dieser Behauptungen wurde widerlegt, aber sie wuchsen nach wie die
Köpfe der Hydra, und es wurde offenkundig, dass es weniger die
wirtschaftlichen als die politischen Bestrebungen waren, die die grosse
Agitation gegen Wiesbaden hervorriefen. Das wurde deutlich in dem
Augenblick, als man behauptete, das Wiesbadener Abkommen hätte
eine so schwere Spaltung zwischen Deutschland und England
hervorgerufen, dass nunmehr England endgültig sich von jedem
Interesse Deutschland gegenüber losgesagt habe. Dass dies nicht der
Fall war, wurde mir von englischer Seite bestätigt; Engländer hoher
Stellung erklärten mir, dass sie in dem Wiesbadener Abkommen
unseren ersten politischen Schritt zur Verwirklichung des
Reparationsproblems erblickten. Sie gingen so weit, zu sagen, dass
ohne das Abkommen von Wiesbaden diejenigen weiteren
Entwicklungen nicht möglich gewesen wären, die uns im Verlauf der
Zeit nach Cannes führten.
Die Konferenz in Cannes ist, meine Herren, wie Sie wissen, nicht
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