Cannes und Genua | Page 5

Walther Rathenau
jetzt
dem Reichskanzler unterstellt, der aber im Laufe von 50 Jahren nur
einmal von seinem Eingriffsrecht Gebrauch gemacht hat. Eine
weitergehende Verständigung ist möglich. Es wäre aber sehr gefährlich,
wenn man anstelle der Verantwortung die Ueberwachung setzte. Das
würde das freie Verantwortungsgefühl erschüttern und als
Präzedenzfall die Zentralnotenbanken aller Staaten schädigen.
Man hat uns endlich gefragt, ob wir mitarbeiten wollen am
Wiederaufbau Europas. Deutschland würdigt die hohe Wichtigkeit
dieser Aufgabe und ihren Zusammenhang mit der Lage der
Weltwirtschaft. Es ist zwar nicht in der Lage, dem Kapitalmarkt der
Welt Mittel im Ausmasse reicherer Staaten zur Verfügung zu stellen,
immerhin unter den beabsichtigten Bedingungen ist Deutschland in der
Lage, den ihm zugedachten Teil zu übernehmen. Deutschland ist um so
mehr geeignet, am Wiederaufbau teilzunehmen, als es mit den
technischen und wirtschaftlichen Bedingungen und Gepflogenheiten
des Ostens vertraut ist. Der Weg, auf den man sich begeben will,
erscheint mir richtig. Ein internationales Syndikat, und zwar ein
Privatsyndikat. Deutschland glaubt, dass man die Frage des
Wiederaufbaus beginnen sollte mit der Wiederherstellung des Verkehrs
und der Verkehrsmittel. Man muss sodann an die Quellen der
Produktion vordringen und vor allem die bestehenden Unternehmungen

wieder neu beleben. Deutschland glaubt, dass es an der Entwicklung
des Ostens und der Mitte Europas um so mehr Anteil zu nehmen
berechtigt ist wegen seiner Haltung der politischen und wirtschaftlichen
Entwicklung gerade dieses östlichen Europas gegenüber. In dem
Augenblick, als Deutschland fast am Ende seiner Kräfte war nach
Krieg, Niederbruch, Revolution hat Deutschland doch der staatlichen
und sozialen Desorganisation widerstanden. Hätte diese
Desorganisation in Deutschland triumphiert, so wäre sie eine
entscheidende Gefahr für die ganze Welt geworden. Deshalb glaubt
Deutschland, sich nicht nur nach Kräften der Wiederherstellung
zerstörter Gebiete des Westens, sondern auch mit Rücksicht auf seine
geographische Lage und Kenntnis nachbarlicher Verhältnisse der
Wiederherstellung von Ost- und Zentral-Europa widmen zu sollen, und
somit an der Aufgabe teilzunehmen, die die Grossmächte sich im
Einvernehmen mit diesen Gebieten gestellt haben.

REDE VOR DEM HAUPTAUSSCHUSS DES REICHSTAGES VOM
7. MÄRZ 1922
Im Mittelpunkt unserer gesamten Aussenpolitik steht nach wie vor das
Problem der Reparationen. In dem Augenblick, als im Frühjahr letzten
Jahres das Ultimatum von Deutschland unterzeichnet wurde und
dadurch das Reparationsproblem in sein gegenwärtig aktuelles Stadium
trat, waren drei Auffassungen in Deutschland gegenüber diesem
Problem erkennbar.
Die eine Auffassung ging dahin, es müsse Festigkeit gezeigt und
Widerstand geleistet, es müsse, komme, was da wolle, die Leistung der
Reparationen überhaupt abgelehnt werden. Ich glaube nicht, dass diese
Anschauung eine verbreitete war, sie ist aber in der Oeffentlichkeit zum
Ausdruck gekommen. Niemand hat den Versuch gemacht, darzulegen,
mit welchen Mitteln eine solche Politik geführt werden könne, und zu
welchen Ergebnissen sie führen würde. Dieses Ergebnis wäre lediglich
die Katastrophe gewesen, die Versenkung Deutschlands in ein Chaos
auswärtiger Verwirrungen.

Die zweite Auffassung, die uns entgegentrat, fand Widerklang in
diesem hohen Hause. Es war die Auffassung, dass man zwar bis zu
einem bestimmten Masse sich dem Reparationsproblem nähern dürfe,
dass aber die erste Aufgabe der Reichsregierung darin bestehen müsse,
wie man sich ausdrückte, mit aller Offenheit zu erklären, die
Leistungen seien vollkommen unerfüllbar und es habe überhaupt
keinen Zweck, sie in irgendwelchem bedeutenderen Ausmasse in
Erwägung zu ziehen. Diese Politik wurde bezeichnet als die Politik der
Offenheit, und es wurde der Regierung der schwere Vorwurf gemacht,
dass sie angeblich diese Offenheit nicht aufbrächte. Diese Auffassung
war unpsychologisch, denn der andere hörte aus dem »Wir können
nicht« nur das »Wir wollen nicht« heraus.
Die dritte Auffassung des Versuches der Erfüllung war die Auffassung
der Reichsregierung, und sie ist im Laufe dieses Jahres in erheblichem
Masse gefördert worden. Die Reichsregierung ging davon aus, dass
eine Verpflichtung für das Reich geschaffen sei durch die Unterschrift
seiner massgebenden Stellen. Sie ging davon aus, dass unter allen
Umständen der Versuch gemacht werden müsse, den ehemaligen
Gegnern zu zeigen, dass Deutschland bereit sei, bis an die Grenze
seiner Leistungsfähigkeit zu gehen. Ich glaube, dass diese Auffassung
die psychologisch richtige war. Sie rechnete mit der Mentalität der
ehemals gegnerischen Länder und ging davon aus, dass über kurz oder
lang eine Erkenntnis des wirklichen Sachverhalts eintreten würde durch
eigene Einsicht der übrigen Nationen.
Ich bedaure, dass ein Wort, das ich bei Einleitung dieser sogenannten
Erfüllungspolitik gesprochen habe, erheblichen Missverständnissen
begegnet ist. Man hat aus Ausführungen, die ich im Reichstag tat,
geschlossen, ich wäre der Meinung, Deutschland könne bis zu jedem
beliebigen Masse seine Erfüllung treiben; es wäre lediglich eine Frage,
wie weit man es für wünschenswert hielte, das Volk in Not geraten zu
lassen. Ich würde eine solche Auffassung, wenn sie in meinen Worten
erkennbar wäre, auf das tiefste bedauern. Was ich gesagt habe, war
aber so ziemlich das Entgegengesetzte. Ich habe für die Möglichkeit
der Erfüllung die stärkste Grenze gezogen, die man überhaupt ziehen
kann, nämlich die sittliche. Ich habe erklärt, dass das Mass der

Erfüllung gegeben sei durch die Frage, wie weit man ein
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