Cannes und Genua | Page 4

Walther Rathenau
jährlich. So zehrt das Land
sich allmählich auf; es lebt von seiner eigenen Substanz. Es hat weder
die Mittel für Erneuerungen noch für die wirtschaftliche Ausstattung
seines Bevölkerungszuwachses.
Es wird auch die Frage Deutschland gegenüber aufgeworfen, und der
Herr Vorsitzende hat sie mit Recht in Erörterung gestellt: Was tut Ihr
mit Euren Waren? Wenn Ihr sie nicht ausführt, so speichert Ihr sie auf
und investiert sie und schafft grosse neue innere Reichtümer. Es
erscheint sehr paradox, dass ein Land trotz Fehlens von Ersparnissen
Waren aufstapeln, bauen und investieren sollte. Ich bitte daher, von der
Lage der Arbeitsstundenzahl und ihrer Verwendung in Deutschland
sprechen zu dürfen. Ich komme damit auch auf die Frage, was
Deutschland mit seinen Arbeitslosen macht, und auf den Verlust an
Arbeitsstunden unter der gegenwärtigen Situation.
1. Die Einkünfte aus Kapitalanlagen im Auslande wurden früher

bezahlt in Waren, die somit einen fortlaufenden Tribut an Gütern
bedeuteten, der in breitem Strom uns zufloss. Schon um diese Güter,
vor allem Rohstoffe, zu erhalten, die wir früher als laufenden Ertrag
erhielten, müssen wir jetzt arbeiten und Arbeitsstunden aufwenden.
Dieser Arbeitsstundenaufwand lässt sich auf 3,75 Milliarden jährlich
schätzen.
2. Aus dem Verlust an Gebieten ergibt sich ein Verlust an Ersparnissen,
der sich in einem Mehraufwand von einer Milliarde Arbeitsstunden
ausdrückt.
3. Man schätzt die Tatsache, dass für die Rohstoffe, die wir einst in
unseren Grenzen hatten und die wir jetzt mit der Ausfuhr oder mit
Arbeitsstunden bezahlen müssen, und den dadurch herbeigeführten
Aufwand von Arbeitsstunden auf 0,83 Milliarden.
4. Aus der ungünstigeren landwirtschaftlichen Flächengestaltung und
der Verschlechterung des Düngemittelbezuges ergibt sich ein weiterer
Mehraufwand von 1,82 Milliarden Arbeitsstunden.
5. Der Gegenwert der verlorenen Dienstleistungen (Schiffahrt,
Aussenhandel und Auslandsbankverkehr) dürfte 1,66 Milliarden
Arbeitsstunden betragen.
Der gesamte Mehraufwand an Arbeitsstunden, wie er durch die
gegebenen Verhältnisse erfordert wird, beträgt danach 9 bis 9,28
Milliarden.
Wenn ich von einer arbeitenden Bevölkerung von 21 Millionen
ausgehe und pro Kopf 2400 Arbeitsstunden im Jahre rechne, so beträgt
der Gesamtwert der von Deutschland aufgewandten Arbeitsstunden
nicht mehr als 50 Milliarden. Hiervon sind mehr als 9 also für Arbeit
aufgewandt, die wir vor dem Kriege nicht aufzuwenden brauchten, d. h.
fast 1/5 der gesamten Arbeitsstunden. Wenn ich diese Summen mit der
Zahl der männlichen arbeitenden Bevölkerung in Beziehung setze, so
ergibt sich bei uns eine versteckte Arbeitslosigkeit von nahezu 4
Millionen Menschen, d. h. 4 Millionen Menschen müssen Arbeit leisten,
die früher nicht notwendig war. Wenn also bei anderen Nationen eine

Arbeitslosigkeit erscheint, die bei uns nicht sichtbar ist, so möchte ich
im Gegensatz dazu von einer unsichtbaren Arbeitslosigkeit sprechen,
die darin besteht, dass 4 Millionen Menschen Arbeit leisten müssen, die
früher nicht nötig war und die das Arbeitsergebnis gegen früher nicht
verbessert. Und zwar alles dies vor irgendeiner Zahlung von
Reparationen. Von einer Aufspeicherung von Reichtümern kann mithin
nicht die Rede sein.
Ich bitte nunmehr etwas sagen zu dürfen über die von Deutschland
erwarteten reinen Goldleistungen. Es mag sein, dass meine bisherigen
Ausführungen negativ klangen. Wo der Optimismus der Berechnung
versagt, wird Energie und Entschlossenheit zu Hilfe kommen müssen,
aber auch hier sind Grenzen gegeben.
Ich knüpfe wieder an die 500 Millionen an, von denen ich schon
gesprochen habe. Die reinen Goldlasten für Deutschland werden aber
in jedem Falle viel höher sein als dieser Betrag. Es handelt sich
zunächst daneben um den Gegenwert des clearing mit 360-400
Millionen Goldmark. Dann aber handelt es sich um die in Gold zu
beschaffende Bezahlung für die Rohstoffe, deren wir zur Herstellung
unserer Sachleistungen bedürfen. Denn mit Ausnahme der
Kohlenlieferungen, für die fremder Bezug von Hilfsmaterialien nicht
allzu schwer ins Gewicht fällt und die ich daher ausser Ansatz lasse,
müssen wir für alle anderen Sachlieferungen etwa 25 Prozent des
Wertes an Rohstoffen aus dem Auslande beziehen. So komme ich zu
weiteren 250 Millionen Goldmark. Wir würden also für 1922 auf eine
Goldleistung von mehr als 1 Milliarde Goldmark kommen, wenn es
sich scheinbar nur um eine Goldzahlung von 500 Millionen handelt.
Wenn es notwendig erscheint, eine so gewaltige Summe von
Deutschland zu verlangen, so sollte man die Frage der Ermässigung des
clearing und der inneren Besatzungskosten eingehend prüfen.
In jedem Falle aber ist Deutschland durchaus bereit, auf den Weg der
Stabilisierung des Budgets zu treten, der ihm vorgeschlagen ist.
Die Erhebung der Zölle auf Goldbasis soll erfolgen.
Die Frage der Verkehrstarife wird 1922 geregelt werden, um das

Defizit dieser Wirtschaftszweige auszugleichen.
Der Abbau der Subsidien ist in die Wege geleitet.
Die Kohlenfrage ist schwieriger, weil die Preise sich dem
Weltmarktpreise immer mehr nähern.
Was die innere Anleihe anbelangt, so wird sie in ernsteste Erwägung
gezogen werden.
Die Frage der Kapitalflucht würde hier viel Zeit wegnehmen. Ich bitte
deshalb, sie heute zurückstellen zu dürfen, zumal ihre Regelung nur
unter Mitwirkung aller Auslandsbanken möglich sein würde.
Was die Garantien anlangt, so gibt es meines Erachtens Mittel, um der
Reichsbank eine grössere Autonomie zu geben. Die Reichsbank ist
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