Candida | Page 8

George Bernard Shaw
steht sie noch in
ihrer Blüte, mit dem Doppelreiz der Jugend und der Mutterschaft. Ihr
Benehmen ist das einer Frau, die erfahren hat, daß sie die Menschen
immer lenken kann, wenn sie ihre Neigung gewinnt, und die dies
unbekümmert offen und instinktiv tut. In diesem Punkte ist sie wie jede
andere hübsche Frau, die gerade klug genug ist, aus ihrer weiblichen
Anziehungskraft zu alltäglich selbsttüchtigen Zwecken so viel Kapital
wie möglich zu schlagen. Aber Candidas heitere Stirn und ihre mutigen
Augen, der schön geformte Mund und ihr Kinn kennzeichnen
umfassenden Geist und Würde des Charakters, der ihre Schlauheit im
Gewinnen von Neigungen adelt. Ein kluger Beobachter würde, sie
betrachtend, sofort erraten, daß wer das Bild der Assunta auch über
ihren Kamin gehängt haben mochte, ein seelisches Band zwischen den

beiden Frauengestalten geahnt hatte, obwohl er weder ihrem Manne,
noch ihr selbst den Gedanken zutraute, sie mit der Kunst Tizians
irgendwie in Zusammenhang zu bringen.--Sie ist in Hut und Mantel
und hat eine zusammengeschnürte Reisedecke, durch die ihr Schirm
gesteckt ist, eine Handtasche und eine Menge illustrierter Zeitungen in
den Händen.)
(Morell über seine Nachlässigkeit erschrocken:) Candida! Ei nun!--(Er
sieht auf seine Uhr und ist entsetzt, daß es schon so spät ist.) Mein
Schatz! (Er eilt ihr entgegen und nimmt ihr die Reisedecke ab, indem er
fortfährt, sein reumütiges Bedauern hervorzusprudeln:) Ich hatte die
Absicht, dich von der Bahn abzuholen, aber ich bemerkte nicht, daß die
Zeit schon um war, (die Reisedecke aufs Sofa werfend:) ich war so sehr
in Anspruch genommen--(Wieder zu ihr kommend:) daß ich das
vergaß--oh! (Er umarmt sie mit reumütiger Ergriffenheit.)
(Burgess etwas beschämt und ungewiß, wie er von seiner Tochter
empfangen werden wird:) Wie geht es dir, Candy? (Candida, noch in
Morells Armen, bietet ihm ihre Wange, die er küßt:) Jakob und ich sind
zu einer Verständigung gekommen--zu einer ehrenvollen
Verständigung. Nicht wahr, Jakob?
(Morell heftig:) Reden Sie nicht von unserer Verständigung!
Ihretwegen habe ich versäumt, Candida abzuholen.
(Teilnahmsvoll:) Du arme Liebe, wie bist du nur mit deinem Gepäck
fertig geworden? Wie--
(Candida unterbricht ihn und macht sich los:) Na, na, na! ich war nicht
allein. Eugen ist mit uns gekommen--wir sind zusammen hergefahren.
(Morell erfreut:) Eugen?!
(Candida.) Ja. Er plagt sich eben mit meinem Gepäck ab, der arme
Junge. Ich bitte dich, lieber Jakob, geh gleich hinunter, sonst bezahlt er
den Wagen, und das möchte ich nicht. (Morell eilt hinaus. Candida
stellt ihre Handtasche nieder, nimmt dann ihren Mantel und Hut ab und
legt sie auf das Sofa neben die Decke und plaudert inzwischen.) Nun,

Papa, wie geht's zu Hause?
(Burgess.) Es lohnt sich nicht mehr, dort zu leben, seit du uns verlassen
hast, Candy. Ich wollte, du kämst einmal, um nachzusehn und mit dem
Mädchen zu sprechen.--Wer ist dieser Eugen, der dich begleitet hat?
(Candida.) Oh, Eugen ist eine von Jakobs Entdeckungen. Er fand ihn
im verflossenen Juni schlafend auf dem Kai. Hast du unser neues Bild
nicht bemerkt? (Ruf das Bild der Assunta zeigend:) Das haben wir von
ihm.
(Burgess ungläubig:) Was soll das heißen? Willst du mir, deinem
eigenen Vater, etwa einreden, daß ein Landstreicher, den man
schlafend auf dem Kai findet, solche Bilder schenkt? (Strenge:) Betrüg
mich nicht, Candy; es ist ein katholisches Bild, und Jakob hat es selbst
gekauft.
(Candida.) Du irrst. Eugen ist kein Landstreicher.
(Burgess.) Was ist er denn? (Sarkastisch:) Ein Edelmann
wahrscheinlich?
(Candida nickt belustigt:) Jawohl, sein Onkel ist ein Pair--ein
wirklicher, leibhaftiger Graf.
(Burgess wagt es nicht, so eine gute Nachricht zu glauben:) Nein!
(Candida.) Ja! Er trug einen Wechsel auf fünfundfünfzig
Pfund--zahlbar in acht Tagen--in der Tasche, als Jakob ihn am Kai fand.
Er dachte, daß er dafür kein Geld bekommen könnte, bevor die acht
Tage um wären, und er war zu schüchtern, Kredit zu verlangen. Oh, er
ist ein lieber Junge, wir haben ihn sehr gern.
(Burgess der so tut, als verachte er die Aristokraten, aber mit
glänzenden Augen:) Hm, ich dachte mir's, daß der Neffe eines Pairs
nicht bei euch im Viktoriapark zu Besuch sein würde, wenn er nicht ein
bißchen verrückt wäre. (Er blickt wieder auf das Bild.) Ich bin natürlich
mit dem Vorwurf dieses Bildes, als strenggläubiger Protestant, nicht

einverstanden, Candy; aber daß es ein erstklassiges, großes Kunstwerk
ist, das habe ich sofort erkannt. Nicht wahr, du stellst mich ihm vor,
Candy? (Er sieht ängstlich auf seine Uhr.) Ich kann aber höchstens
noch zwei Minuten bleiben.
(Morell kommt mit Eugen zurück, den Burgess mit feuchten Augen
begeistert anstarrt. Eugen ist ein seltsamer, scheuer Jüngling von
achtzehn Jahren, schlank, weibisch, mit einer zarten, kindlichen
Stimme, einem gehetzten, gequälten Ausdruck und mit einem
Benehmen, das die schmerzliche Empfindlichkeit sehr schnell und
plötzlich gereifter Knaben kennzeichnet, bevor ihr Charakter volle
Festigkeit erreicht hat. Erbärmlich unentschlossen, weiß er nie, wo er
stehen und was er tun soll. Burgess erschreckt ihn, und er möchte am
liebsten fort von ihm
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