Candida | Page 9

George Bernard Shaw
in die Einsamkeit laufen, wenn er es wagte. Aber
die Intensität, mit der er eine so ganz gewöhnliche Lage empfindet,
zeugt doch nur von seiner übergroßen nervösen Kraft; und seine
Nasenflügel, sein Mund und seine Augen verraten einen
leidenschaftlich ungestümen Eigensinn, über dessen äußersten Grad
seine Stirne, die schon vom Mitleid gefurcht ist, wieder beruhigt. Er
sieht absonderlich aus, beinahe wie nicht von dieser Welt--und
prosaische Leute sehen etwas Ungesundes in dieser überirdischen Art,
so wie poetische Menschen darin etwas Engelgleiches sehen. Seine
Kleidung ist ganz frei; er trägt ein altes Jakett aus blauem Serge,
aufgeknöpft, über einem wollenen Lawn-Tennis-Hemd, mit einem
seidenen Halstuch als Krawatte, zu dem Jackett passende Beinkleider
und braune Schuhe aus Segeltuch. In diesem Aufzuge hat er
augenscheinlich im Heidekraut gelegen und ist durch das Wasser
gewatet; es ist auch nicht ersichtlich, daß er die Kleider jemals
abgebürstet hat. Da er beim Eintritt einen Fremden sieht, hält er inne
und drückt sich längs der Wand nach der entgegengesetzten Seite des
Zimmers weiter.)
(Morell beim Eintreten:) Kommen Sie. Sie haben sicher doch eine
Viertelstunde für uns übrig. Das ist mein Schwiegervater, Herr
Burgess--Herr Marchbanks.
(Marchbanks weicht geängstigt gegen den Bücherschrank zurück:) Sehr

angenehm--
(Burgess geht mit großer Herzlichkeit auf ihn zu, während Morell vor
den Kamin zu Candida tritt:) Es freut mich sehr, Sie kennen zu lernen,
Herr Marchbanks. (Nötigt ihn, ihm die Hand zu geben.) Wie geht es
Ihnen bei diesem Wetter? Ich hoffe, Jakob versucht nicht, Ihnen
verrückte Ideen in den Kopf zu setzen.
(Marchbanks.) Verrückte Ideen? Ach, Sie meinen sozialistische? Nein,
o nein!
(Burgess.) Das ist recht. (Sieht wieder auf seine Uhr.) Na, jetzt muß ich
aber gehen, da ist nichts zu machen. Haben Sie vielleicht denselben
Weg, Herr Marchbanks?
(Marchbanks.) Nach welcher Richtung gehen Sie?
(Burgess.) Station Viktoriapark. Um zwölf Uhr fünfundzwanzig geht
ein Zug nach der City.
(Morell.) Unsinn, Eugen, Sie frühstücken doch hoffentlich mit uns!
(Marchbanks sich ängstlich entschuldigend:) Nein, ich--ich--
(Burgess.) Nun, ich will Ihnen nicht zureden. Ich wette, daß Sie es
vorziehen, mit Candy zu frühstücken. Ich hoffe aber, dafür werden Sie
eines Abends im Bürgerklub in Norton Folgate mit mir dinieren,--bitte,
sagen Sie zu!
(Marchbanks.) Ich danke Ihnen, Herr Burgess. Wo ist Norton
Folgate?--Unten in Surrey, nicht wahr?
(Burgess, unaussprechlich belustigt, fängt zu lachen an.)
(Candida zu Hilfe kommend:) Du wirst deinen Zug versäumen, Papa,
wenn du nicht sofort gehst; komm am Nachmittag wieder und erkläre
Herrn Marchbanks dann, wie man nach dem Klub gelangt.
(Burgess mit schallendem Gelächter:) In Surrey, ha ha, das ist nicht

schlecht! Nun, ich habe noch nie einen Menschen getroffen, der nicht
Norton Folgate gekannt hätte.
(Betroffen über den Lärm seiner eigenen Stimme:) Leben Sie wohl,
Herr Marchbanks; ich weiß, Sie sind zu vornehm, um meinen Scherz
schlecht aufzufassen. (Er reicht ihm abermals die Hand.)
(Marchbanks erfaßt sie mit nervösem Griff.) O bitte, bitte!
(Burgess.) Adieu, adieu, Candy. Ich werde später wiederkommen--auf
Wiedersehen, Jakob.
(Morell.) Müssen Sie wirklich gehen?
(Burgess.) Laßt euch nicht stören. (Er gebt mit unverminderter
Herzlichkeit hinaus.)
(Morelt.) Ich werde Sie hinausbegleiten. (Er folgt ihm, Eugen starrt
ihnen ängstlich nach und hält seinen Atem an, bis Burgess
verschwunden ist.)
(Candida lachend:) Nun, Eugen? (Er wendet sich mit einem Ruck um
und kommt heftig auf sie zu, hält aber unschlüssig inne, als er ihren
belustigten Blick bemerkt.) Wie gefällt Ihnen mein Vater?
(Marchbanks.) Ich--ich kenne ihn doch kaum,--er scheint ein sehr lieber
alter Herr zu sein.
(Candida mit leiser Ironie:) Und Sie werden seine Einladung in den
Bürgerklub annehmen, nicht wahr?
(Marchbanks unglücklich, es für Ernst nehmend:) Gerne, wenn Sie es
wünschen.
(Candida gerührt:) Wissen Sie, daß Sie ein sehr lieber Junge sind,
Eugen, trotz all Ihrer Sonderlichkeiten. Wenn Sie meinen Vater
ausgelacht hätten, so wäre nichts dabei gewesen, aber es gefällt mir um
so besser von Ihnen, daß Sie nett zu ihm waren.

(Marchbanks.) Hätte ich lachen sollen? Mir war, als ob er etwas
scherzhaftes sagte, aber ich fühle mich Fremden gegenüber so bedrückt,
und ich kann Witze nie verstehen. Es tut mir sehr leid. (Er setzt sich auf
das Sofa, die Ellbogen auf den Knien und die Schläfen zwischen den
Fäusten, mit dem Ausdruck hoffnungslosen Leidens.)
(Candida heitert ihn gutmütig auf:) Oh, Sie großes Kind,--Sie sind
heute noch ärger als sonst. Warum waren Sie auf der Fahrt in der
Droschke so melancholisch?
(Marchbanks.) Oh, das war nichts. Ich dachte darüber nach, wieviel ich
dem Kutscher geben sollte. Ich weiß, es ist äußerst dumm, aber Sie
wissen nicht, wie schrecklich mir solche Dinge sind,--wie ich mich
davor scheue, mit fremden Leuten zu unterhandeln. (Frisch und
beruhigend:) Aber jetzt ist alles gut. Er lachte mit dem ganzen Gesicht
und berührte seinen Hut, als Ihr Mann ihm zwei Schilling gab; ich war
im Begriff, ihm zehn zu bieten. (Candida lacht herzlich, Morell kommt
mit einigen Briefen und Zeitungen zurück, die mit der Mittagspost
gekommen sind.)
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