Candida | Page 6

George Bernard Shaw
schluchzendem Vorwurf über diese
Behandlung:) Ziemt diese Sprache einem Pastor, Jakob? Und
besonders Ihnen?
(Morell bitzig:) Nein, sie ziemt ihm nicht, ich habe das falsche Wort
gebraucht,--ich hätte sagen sollen: "Der Teufel soll Ihre Frechheit
holen!" Das würde Ihnen der heilige Paulus und jeder andere brave
Priester gesagt haben. Glauben Sie, ich habe Ihr Anerbieten vergessen,
als Sie für das Armenhaus vertragsmäßig Kleider liefern sollten?
(Burgess in höchster Erbitterung, weil ihm seine Forderung nur recht
und billig erscheint:) Ich habe im Interesse der Steuerzahler gehandelt,
Jakob,--es war das niedrigste Angebot, das können Sie nicht leugnen.
(Morell.) Jawohl, das niedrigste, weil Sie schlechtere Löhne zahlten als
irgendein anderer Unternehmer--Hungerlöhne,--ach, ärger als
Hungerlöhne war die Bezahlung, die Sie den Frauen für ihre Näharbeit
geboten haben. Ihre Löhne hätten die Armen auf die Straße getrieben,
um Leib und Seele zu verkaufen. (Immer wütender werdend:) Jene
Frauen waren aus meinem Kirchsprengel, ich habe die Armenpfleger
dazu gebracht, daß sie sich schämten, Ihr Angebot anzunehmen, ich
habe die Steuerzahler dazu gebracht, daß sie sich schämten, es
zuzulassen, ich habe jeden bis auf Sie dazu gebracht, sich deswegen zu
schämen. (Überschäumend vor Wut:) Wie können Sie es wagen, Herr,
hierherzukommen und mir etwas vergeben zu wollen und über Ihre
Tochter zu sprechen und...
(Burgess.) Beruhigen Sie sich, Jakob,--still, still, regen Sie sich nicht
für nichts und wieder nichts so auf. Ich habe ja zugegeben, daß ich

unrecht hatte.
(Morell wütend:) Haben Sie das? Ich habe nichts davon bemerkt!
(Burgess.) Natürlich gab ich's zu, so wie ich's noch jetzt zugebe. Na,
ich bitte Sie um Verzeihung wegen des Briefes, den ich Ihnen
geschrieben habe,--genügt Ihnen das?
(Morell mit den Fingern schnalzend:) Ganz und gar nicht! Haben Sie
die Löhne erhöht?
(Burgess triumphierend:) Ja!
(Morell verblüfft innehaltend:) Was?
(Burgess salbungsvoll:) Ich bin das Muster eines Arbeitgebers
geworden. Ich beschäftige keine Frauen mehr, sie haben alle den
Laufpaß bekommen, und die Arbeit wird jetzt durch Maschinen
verrichtet. Nicht ein Mann verdient jetzt weniger als sechs Pence die
Stunde, und die alten geübten Arbeiter bekommen die von den
Gewerkschaften festgesetzten Löhne. (Stolz:) Was sagen Sie jetzt?
(Morell überwältigt:) Ist das möglich? Na, es ist mehr Freude im
Himmel über einen Sünder, der Buße tut--(Er geht auf Burgess zu mit
einem Ausbruch entschuldigender Herzlichkeit.) Mein lieber Burgess,
ich bitte Sie herzlichst um Verzeihung wegen der schlechten Meinung,
die ich von Ihnen hatte. (Seine Hand fassend:) Und fühlen Sie sich
nicht wohler nach dieser Veränderung? Gestehen Sie es! Sie sind
glücklicher, Sie sehen glücklicher aus.
(Burgess kläglich:) Na ja, vielleicht fühle ich mich jetzt glücklicher, ich
muß wohl, da Sie es bemerken. Tatsache ist, daß mein Angebot von der
Behörde angenommen wurde. (Wild:) Sie wollte nichts mit mir zu
schaffen haben, ehe ich anständige Löhne zahlte--der Teufel soll diese
verdammten Narren holen, die ihre Nase in alles stecken müssen!
(Morell läßt seine Hand fahren, aufs tiefste entmutigt:) Das ist also der
Grund, warum Sie die Löhne erhöht haben! (Er setzt sich

niedergeschlagen.)
(Burgess streng, anmaßend, lauter werdend:) Weswegen sollt' ich es
sonst getan haben? Wohin anders führt es, als zu Trunksucht und
Ausschweifungen? (Er setzt sich wie ein Richter in den großen
Lehnstuhl.) Das ist alles sehr schön und gut für Sie: es bringt Sie in die
Zeitungen und macht Sie zu einem berühmten Manne; aber Sie denken
nie an den Schaden, den Sie anrichten, indem Sie die Taschen der
Arbeiter mit Geld anfüllen, das sie doch nicht vernünftig auszugeben
verstehen, während Sie es Leuten fortnehmen, die gute Verwendung
dafür hätten.
(Morell nach einem schweren Seufzer, mit kalter Höflichkeit:) Was
wollen Sie also heute von mir? Ich bilde mir nicht ein, daß nur
verwandtschaftliche Gefühle Sie herführen.
(Burgess hartnäckig:) Doch--gerade verwandtschaftliche Gefühle und
nichts anderes!
(Morell mit müder Ruhe:) Das glaub' ich Ihnen nicht.
(Burgess springt drohend auf:) Sagen Sie mir das nicht ein zweites Mal,
Jakob Morell!
(Morell unerschütterlich:) Ich werde es genau so oft sagen, als es nötig
ist, Sie davon zu überzeugen.--Das glaub' ich Ihnen nicht.
(Burgess versinkt in einen Zustand von tief verwundetem Gefühl:) Nun
gut, wenn Sie durchaus unfreundlich sein wollen, dann ist es wohl am
besten, ich gehe. (Er bewegt sich zögernd gegen die Tür, Morell gibt
kein Zeichen. Burgess zögert noch.) Ich habe nicht erwartet, Sie
unversöhnlich zu finden, Jakob. (Da Morell noch immer nicht
antwortet, macht er noch einige zögernde Schritte nach der Tür, dann
kommt er zurück, jammernd:) Wir haben uns doch immer ganz gut
vertragen, trotz unserer verschiedenen Anschauungen, warum sind Sie
mir gegenüber jetzt so verändert? Ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich
bloß aus Freundschaft hergekommen bin und nicht, um mich mit dem
Manne meiner eigenen Tochter auf schlechten Fuß zu stellen. Seien Sie

doch ein Christ, Jakob, reichen Sie mir Ihre Hand. (Er legt seine Hand
sentimental auf Morells Schulter.)
(Morell blickt nachdenklich zu ihm auf.) Schauen Sie, Burgess, wollen
Sie hier
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