Candida | Page 5

George Bernard Shaw
tragen wie jeder
andere? Warum gehen Sie mit vorgeschobenem Kinn und warum eilen
Sie vorwärts mit diesem eifrigen Ausdruck in den Augen,--Sie, der Sie
nie vor halb zehn Uhr morgens aufstehen? Warum sagen Sie in der
Kirche "Aandacht", obwohl Sie im Leben "Andacht" sagen?
Bah--glauben Sie, ich weiß das nicht? (Geht zurück zur
Schreibmaschine.) Da kommen Sie her und machen Sie sich endlich an
Ihre Arbeit; wir haben heute Morgen genug Zeit verloren. Hier ist eine
Abschrift der Tageseinteilung für heute. (Sie reicht ihm ein
Memorandum. Mill schwer beleidigt:) Ich danke Ihnen. (Er nimmt das
Papier und steht mit dem Rücken gegen sie an den Tisch gelehnt und
liest.) Sie fängt an, auf der Schreibmaschine ihre stenographischen
Aufzeichnungen zu übertragen, ohne auf Mills Gefühle zu achten.
(Burgess tritt unangemeldet ein.) Er ist ein Mann von sechzig Jahren,
derb und filzig geworden durch die notwendige Selbstsucht des kleinen
Krämers, die sich später durch Überfütterung und geschäftlichen Erfolg
zu träger Aufgeblasenheit milderte. Ein gemeiner, unwissender,
unmäßiger Mensch, beleidigend und hochnasig Leuten gegenüber,
deren Arbeit wohlfeil ist, ehrfürchtig gegen Menschen von Reichtum
und Rang, aber beiden gegenüber ganz aufrichtig und ohne Groll oder
Neid. Da sie ihn ohne besondere Fähigkeiten sah, hat ihm die Welt
keine andere gut bezahlte Arbeit zu bieten gewußt, als unnoble Arbeit,
und er wurde infolgedessen etwas erbärmlich, hat aber keine Ahnung,

daß er so beschaffen ist, und betrachtet seinen kommerziellen
Wohlstand ganz ehrlich als den unvermeidlichen und sozial
berechtigten Triumph der Geschicklichkeit, Tüchtigkeit, Fähigkeit und
Erfahrung eines Mannes, der im Privatleben übertrieben, leichtsinnig,
liebenswürdig und leutselig ist. Körperlich ist er kurz und dick, mit
einer schnauzenähnlichen Nase in der Mitte eines flachen, breiten
Gesichtes; unter dem Kinn ein staubfarbener Bart mit einem grauen
Fleck in der Mitte; er hat wässerige blaue Augen mit klagend
sentimentalem Ausdruck, der sich durch die Gewohnheit, seine Sätze
wichtigtuend zu singen, auch leicht auf seine Stimme überträgt.
(Burgess bleibt an der Schwelle stehen und blickt umher:) Man sagte
mir, Herr Morell sei hier.
(Proserpina sich erhebend:) Er ist oben, ich will ihn holen.
(Burgess sie frech anstarrend:) Sie sind nicht dieselbe junge Dame, die
sonst für ihn schrieb.
(Proserpina.) Nein.
(Burgess beistimmend:) Nein, die war jünger. (Fräulein Garnett starrt
ihn an, dann gebt sie mit großer Würde hinaus. Er nimmt dies
gleichgültig entgegen und geht an den Kaminteppich, wo er sich
umwendet und sich breitspurig aufpflanzt, den Rücken dem Feuer
zugekehrt.)
(Burgess.) Sind Sie im Begriff Ihren Rundgang zu machen, Herr Mill?
(Mill faltet sein Papier und steckt es in die Tasche:) Jawohl, ich muß
gleich fort.
(Burgess wichtig:) Lassen Sie sich nicht aufhalten; was ich mit Herrn
Morell zu besprechen habe, ist ganz privater Natur.
(Mill aufgeblasen:) Ich habe durchaus nicht die Absicht, mich
einzumengen, verlassen Sie sich darauf, Herr Burgess. Guten Morgen!

(Burgess herablassend:) Guten Morgen, guten Morgen!
(Morell kommt zurück, während Mill sich zur Tür wendet.)
(Morell zu Mill:) Sie gehen an die Arbeit?
(Mill.) Jawohl, Herr Pastor.
(Morell klopft ihn liebenswürdig auf die Schulter:) Da, nehmen Sie
mein Seidentuch um den Hals, es geht ein kalter Wind draußen. Aber
jetzt machen Sie, daß Sie fortkommen. (Mill, mehr als getröstet über
Burgess' Schroffheit, freut sich und geht hinaus.)
(Burgess.) Guten Morgen, Jakob. Sie verwöhnen Ihren Unterpfarrer
wie immer. Wenn ich einen Mann bezahle und einer auf meine Kosten
lebt, dann weise ich ihm gehörig seinen Platz an.
(Morell etwas kurz angebunden:) Ich weise meinem Unterpfarrer
immer seinen Platz an, nämlich an meiner Seite als meinem Helfer und
Kameraden. Wenn es Ihnen gelingt, so viel Arbeit aus Ihren Kommis
und Angestellten herauszukriegen wie ich aus meinem Unterpfarrer,
dann müssen Sie ziemlich rasch reich werden. Bitte, setzen Sie sich in
Ihren gewohnten Stuhl. (Er weist mit trockener Autorität auf den
Armstuhl neben dem Kamin, dann ergreift er einen freien Stuhl und
setzt sich in zurückhaltender Entfernung von seinem Besucher.)
(Burgess ohne sich zu rühren:) Sie sind ganz der alte, Jakob.
(Morell.) Als Sie mich das letztemal besuchten--ich glaube, es war vor
drei Jahren--da sagten Sie genau dasselbe. Nur etwas aufrichtiger. Ihr
wörtlicher Ausspruch war damals: "Derselbe Narr wie immer, Jakob."
(Burgess sich rechtfertigend:) Vielleicht sagte ich das, aber (mit
versöhnender Heiterkeit:) ich meinte nichts Beleidigendes damit. Ein
Geistlicher hat das Privilegium, ein wenig närrisch sein zu
dürfen--wissen Sie, das liegt schon in seinem Beruf. Einerlei, ich bin
nicht hergekommen, um alte Meinungsverschiedenheiten aufzuwärmen,
sondern um die Vergangenheit vergessen sein zu lassen. (Er wird

plötzlich sehr feierlich und nähert sich Morell.) Jakob, vor drei Jahren
haben Sie mir übel mitgespielt. Sie haben mich um meine Lieferungen
gebracht, und als ich Ihnen in meiner erklärlichen Verzweiflung böse
Worte gab, brachten Sie meine Tochter gegen mich auf. Nun, ich bin
gekommen, um Ihnen zu zeigen, daß ich ein guter Christ bin. (Ihm
seine Hand darreichend:) Ich verzeihe Ihnen, Jakob.
(Morell auffahrend:) Verdammt frech!
(Burgess weicht zurück mit fast
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