Candida | Page 4

George Bernard Shaw
verlassen, als Mill ihn
zurückruft.)
(Mill.) Oh, warten Sie einen Augenblick, ich vergaß... (Morell bleibt
stehen und wendet sich um, die Türklinke in der Hand.) Ihr Herr
Schwiegervater wird hierherkommen, er hat mit Ihnen zu sprechen.
(Morell schließt die Tür wieder, mit vollkommen verändertem Wesen.)
(Morell überrascht und nicht erfreut:) Burgess?
(Mill.) Ja! Ich traf ihn mit jemandem im Park, in eifrigem Gespräch. Er
sprach mich an und bat mich, Sie wissen zu lassen, daß er
hierherkommt.
(Moroll halb ungläubig:) Aber er ist seit Jahren nicht hier gewesen.
Sind Sie sicher, Lexi? Sie scherzen doch nicht etwa?--

(Mill ernst:) Nein, Herr Pastor, ganz bestimmt nicht!
(Morell nachdenklich:) Hm, hm, er hält es an der Zeit, sich wieder
einmal nach Candida umzusehen, ehe sie gänzlich aus seinem
Gedächtnis verschwindet. (Er fügt sich in das Unvermeidliche und geht
hinaus; Mill sieht ihm mit begeisterter, närrischer Verehrung nach.
Fräulein Garnett, die Mill nicht schütteln kann, wie sie möchte, läßt
ihre Gefühle an der Schreibmaschine aus.)
(Mill.) Was für ein vortrefflicher Mann, welch ein tiefes liebevolles
Gemüt! (Er nimmt Morells Platz am Tisch ein und macht es sich
bequem, indem er eine Zigarette hervorzieht.)
(Proserpina ungeduldig, nimmt den Brief, den sie auf der Maschine
geschrieben hat, und faltet ihn zusammen:) Ach! ein Mann sollte seine
Frau lieben können, ohne einen Narren aus sich zu machen.
(Mill erregt:) Aber Fräulein Proserpina!
(Proserpina geschäftig aufstehend, holt ein Kuvert aus dem Pulte, in
das sie, während sie spricht, den Brief hineinlegt:) Candida hin und
Candida her und Candida überall. (Sie leckt das Kuvert.) Es kann einen
außer Rand und Band bringen! (Hämmert das Kuvert, um es fest zu
schließen.) Hören zu müssen, wie eine ganz gewöhnliche Frau in dieser
lächerlichen Weise vergöttert wird, bloß weil sie schönes Haar und eine
leidliche Figur hat.
(Mill mit vorwurfsvollem Ernst:) Ich finde sie ungewöhnlich schön,
Fräulein Garnett. (Er nimmt die Photographie zur Hand betrachtet sie
und fügt mit noch tieferem Ausdruck hinzu:) Wunderbar schön,--was
für herrliche Augen sie hat!
(Proserpina.) Candidas Augen sind durchaus nicht schöner als meine,
(Mill stellt die Photograpbie fort und sieht sie strenge an,) und ich weiß
ganz gut, daß Sie mich für ein gewöhnliches und untergeordnetes
Geschöpf halten.
(Mill erbebt sich majestätisch:) Gott behüte, daß ich von irgendeinem

Geschöpf Gottes in dieser Weise dächte. (Er geht steif von ihr fort bis
in die Nähe des Bücherschranks.)
(Proserpina mit bitterem Spott:) Ich danke Ihnen, das ist sehr nett und
tröstlich.
(Mill traurig über ihre Verstocktheit:) Ich hatte keine Ahnung, daß Sie
etwas gegen Frau Morell haben.
(Proserpina entrüstet:) Ich habe durchaus nichts gegen sie. Sie ist sehr
liebenswürdig und sehr gutherzig, ich habe sie sehr gern und weiß ihre
wirklich guten Eigenschaften weit besser zu würdigen, als irgendein
Mann es könnte. (Mill schüttelt traurig den Kopf, wendet sich zum
Bücherschrank und sucht die Reihen entlang nach einem Bande. Sie
folgt ihm mit heftiger Leidenschaftlichkeit.) Sie glauben mir nicht? (Er
wendet sich um und blickt ihr ins Gesicht. Sie fällt ihn mit Heftigkeit
an:) Sie halten mich für eifersüchtig? Was für eine tiefe Kenntnis des
menschlichen Herzens Sie haben, Herr Alexander Mill! Wie gut Sie die
Schwächen der Frauen kennen, nicht wahr? Wie schön es sein muß, ein
Mann zu sein und einen scharfen durchdringenden Verstand zu haben,
statt bloße Gefühle, wie wir Frauen, und zu wissen, daß die Ursache,
warum wir ihr Vernarrtsein in eine Frau nicht teilen, nur in
gegenseitiger Eifersucht zu suchen sein kann. (Sie wendet sich mit
einer Bewegung ihrer Schultern von ihm ab und geht an das Feuer, ihre
Hände zu wärmen.)
(Mill.) Ach, wenn Ihr Frauen nur ebenso leicht den Schlüssel zur Stärke
des Mannes fändet wie zu seiner Schwäche, es gäbe keine Frauenfrage.
(Proserpina über ihre Schulter, während sie die Hände vor die Flammen
hält:) Wo haben Sie das von Herrn Morell gehört? Sie selbst haben es
nicht erfunden,--Sie sind dazu nicht gescheit genug.
(Mill.) Das ist ganz richtig. Ich schäme mich durchaus nicht, ihm
diesen Ausspruch zu verdanken, wo ich ihm schon so viele andere
geistige Wahrheiten verdanke! Er tat ihn bei der Jahresversammlung
der freien Frauenvereinigung. Erlauben Sie mir hinzuzufügen, daß ich,
obwohl bloß ein Mann, im Gegensatz zu jenen Frauen diesen

Ausspruch zu schätzen wußte! (Er wendet sich wieder an den
Bücherschrank in der Hoffnung, daß diese Worte sie vernichtet haben.)
(Proserpina ordnet ihr Haar vor den kleinen Spiegeln des Kamins:)
Wenn Sie mit mir sprechen, sagen Sie mir gefälligst Ihre eigenen
Gedanken, soviel sie eben wert sind, und nicht die Pastor Morells. Sie
geben niemals eine traurigere Figur ab, als wenn Sie versuchen, ihn
nachzumachen.
(Mill gekränkt:) Ich versuche seinem Beispiel zu folgen, aber nicht, ihn
nachzumachen.
(Proserpina kommt wieder an ihn heran auf dem Rückwege zu ihrer
Arbeit:) Jawohl, Sie machen ihn nach. Warum stecken Sie Ihren
Schirm unter den linken Arm, statt ihn in der Hand zu
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