Briefe aus der Schweiz | Page 8

Johann Wolfgang von Goethe
aus. Wie ein gewaltiger K?rper von au?en gegen das Herz zu abstirbt, so erbla?ten alle langsam gegen den Montblanc zu, dessen weiter Busen noch immer roth herüber gl?nzte und auch zuletzt uns noch einen r?thlichen Schein zu behalten schien, wie man den Tod des Geliebten nicht gleich bekennen, und den Augenblick, wo der Puls zu schlagen aufh?rt, nicht abschneiden will. Auch nun gingen wir ungern weg. Die Pferde fanden wir in St. Sergues, und da? nichts fehle, stieg der Mond auf und leuchtete uns nach Nyon, inde? unterweges unsere gespannten Sinnen sich wieder lieblich falten konnten, wieder freundlich wurden, um mit frischer Lust aus den Fenstern des Wirthshauses den breitschwimmenden Widerglanz des Mondes im ganz reinen See genie?en zu k?nnen.
Hier und da auf der ganzen Reise ward soviel von der Merkwürdigkeit der Savoyer Eisgebirge gesprochen, und wie wir nach Genf kamen, h?rten wir, es werde immer mehr Mode dieselben zu sehen, da? der Graf eine sonderliche Lust kriegte, unsern Weg dahin zu leiten, von Genf aus über Cluse und Salenche in's Thal Chamouni zu gehen, die Wunder zu betrachten, dann über Valorsine und Trient nach Martinach in's Wallis zu fallen. Dieser Weg, den die meisten Reisenden nehmen, schien wegen der Jahrszeit etwas bedenklich. Der Herr de Saussure wurde de?wegen auf seinem Landgute besucht und um Rath gefragt. Er versicherte, da? man ohne Bedenken den Weg machen k?nne: es liege auf den mittlern Bergen noch kein Schnee, und wenn wir in der Folge auf's Wetter und auf den guten Rath der Landleute achten wollten, der niemals fehl schlage, so k?nnten wir mit aller Sicherheit diese Reise unternehmen. Hier ist die Abschrift eines sehr eiligen Tageregisters.

Cluse in Savoyen den 3. November.
Heute bei'm Abscheiden von Genf theilte sich die Gesellschaft; der Graf, mit mir und einem J?ger, zog nach Savoyen zu; Freund W. mit den Pferden durch's Pays de Vaud in's Wallis. Wir in einem leichten Cabriolett mit vier R?dern, fuhren erst, Hubern auf seinem Landgute zu besuchen, den Mann, dem Geist, Imagination, Nachahmungsbegierde zu allen Gliedern heraus will, einen der wenigen ganzen Menschen, die wir angetroffen haben. Er setzte uns auf den Weg, und wir fuhren sodann, die hohen Schneegebirge, an die wir wollten, vor Augen, weiter. Vom Genfersee laufen die vordern Bergketten gegen einander, bis da, wo Bonneville, zwischen der Mole, einem ansehnlichen Berge, und der Arve inne liegt. Da a?en wir zu Mittag. Hinter der Stadt schlie?t sich das Thal an, obgleich noch sehr breit, die Arve flie?t sachte durch, die Mittagseite ist sehr angebaut und durchaus der Boden benutzt. Wir hatten seit früh etwas Regen, wenigstens auf die Nacht, befürchtet, aber die Wolken verlie?en nach und nach die Berge und theilten sich in Sch?fchen, die uns schon mehr ein gutes Zeichen gewesen. Die Luft war so warm, wie Anfang Septembers und die Gegend sehr sch?n, noch viele B?ume grün, die meisten braungelb, wenige ganz kahl, die Saat hochgrün, die Berge im Abendroth rosenfarb in's Violette, und diese Farben auf gro?en, sch?nen, gef?lligen Formen der Landschaft. Wir schwatzten viel Gutes. Gegen Fünfe kamen wir nach Cluse, wo das Thal sich schlie?et und nur Einen Ausgang l??t, wo die Arve aus dem Gebirge kommt und wir morgen hineingehen. Wir stiegen auf einen Berg und sahen unter uns die Stadt an einen Fels gegenüber mit der einen Seite angelehnt, die andere mehr in die Fl?che des Thals hingebaut, das wir mit vergnügten Blicken durchliefen, und auf abgestürzten Granitstücken sitzend, die Ankunft der Nacht, mit ruhigen und mannichfaltigen Gespr?chen, erwarteten. Gegen Sieben, als wir hinabstiegen, war es noch nicht kühler, als es im Sommer um neun Uhr zu sein pflegt. In einem schlechten Wirthshaus, bei muntern und willigen Leuten, an deren Patois man sich erlustigt, erschlafen wir nun den morgenden Tag, vor dessen Anbruch wir schon unsern Stab weiter setzen wollen.
Abends gegen Zehn.

Salenche den 4. Nov. Mittags.
Bis ein schlechtes Mittagessen von sehr willigen H?nden wird bereitet sein, versuche ich das Merkwürdigste von heute früh aufzuschreiben. Mit Tages Anbruch gingen wir zu Fu?e von Cluse ab, den Weg nach Balme. Angenehm frisch war's im Thal, das letzte Mondviertel ging vor der Sonne hell auf und erfreute uns, weil man es selten so zu sehen gewohnt ist. Leichte, einzelne Nebel stiegen aus den Felsritzen aufw?rts, als wenn die Morgenluft junge Geister aufweckte, die Lust fühlten, ihre Brust der Sonne entgegen zu tragen und sie an ihren Blicken zu vergülden. Der obere Himmel war ganz rein, nur wenige durchleuchtete Wolkenstreifen zogen quer darüber hin. Balme ist ein elendes Dorf, unfern vom Weg, wo sich eine Felsschlucht wendet. Wir verlangten von den Leuten, da? sie uns zur H?hle führen sollten, von der der Ort seinen Ruf hat. Da sahen sich die Leute unter einander an und sagten einer zum andern: Nimm du die Leiter, ich will den Strick nehmen, kommt ihr Herrn nur mit! Diese wunderbare Einladung
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